Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Pali-Tücher und Dosenschleim
Nicht, dass ich früher, also etwa zu der Zeit als ich über Altamont erschrak und dankbaren Toten zuhörte, nicht auch mal Uniform getragen hätte. In meinem Führerscheinbild bin ich ja mit Haaren bis auf die Schulter, Fusselbart und Parka abgelichtet. Freaks nannten wir uns, damals in der guten alten Zeit, als Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler und Almdudler („Hm? Schmeckt irgendwie nach alten Socken, nicht?“ ) noch ein Geheimtipp für Geschmacksperversler war, Hippies nannten uns die Anderen. Natürlich diente das Aussehen der Abgrenzung gegen Spießer und Nazis und habichvergessen. Wir wollten anders sein und jeder sollte das erkennen können. „Geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht passt!“ schallte es uns entgegen, das Problem war natürlich, dass es uns hier nicht gepasst hat und drüben auch nicht. So weit so gut: wir und die anderen.

Nun ist das mit den Israelis und den Palästinensern so eine Sache: erstens sind sie auf der anderen Seite des Mittelmeeres und ich habe ja so meine Schwierigkeiten, wenn man sich in Konflikte anderer Leute dergestalt einmischt, dass man Partei ergreift. Wie man eigentlich wissen könnte, ist das bei Konflikten meist so, dass nicht die Einen Recht und die Anderen Unrecht haben, auf welche Seite soll man sich also stellen? Auf die Richtige natürlich! Klar, sowieso, genau!

Es gibt ja viele gut Gründe, israelische Politik zu kritisieren, die Siedlungspolitik beispielsweise, die einen Kompromiss über Land & Wasser zunehmend erschwert, oder oder …
Es ist auch richtig, dass in diesem Konflikt die Israelis die Stärkeren sind, nur kann man sich dann einfach, wenn auch nur symbolisch, auf die Seite der Schwächeren schlagen?

Was ich damit sagen will: ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem Tragen der Kufiya habe, auch und gerade, wenn es nur ein modisches Accessoire ist und der Träger über den Hintergrund nichts weiß.

Sago habe ich als Kind einmal probiert und dann nie wieder. Irgendwelche Fruchtsäfte wurden mit Zucker und eben Perlsago aufgekocht und es entstand ein dicker, süßer Schleim. Örks! Meine Mutter meinte, dass Kinder doch Süßes mögen und folglich würde mir auch Sago schmecken. Die These hat nicht hingehauen, Graupen seien gesund und wohlschmeckend, war auch so eine These, die bei mir nicht verfangen hat. Man kann den Perlsago auch mit Milch und Zucker aufkochen, wenn Sahne zu teuer ist und daraus eine Art Pannacotta herstellen. Schmeckt auch ziemlich scheiße. Sago hat noch einen Nachteil: die Kügelchen oder Klümpchen lösen sich nicht vollständig auf und so entsteht … Ich glaube, hier sollte ich die Schilderung abbrechen. Fassen wir zusammen: Nicht schön, nicht wohlschmeckend und die Konsistenz ist nur was für die ganz Harten.

Vor ein paar Tagen nun war es in der Bahn so voll wie es im Winter an jedem Tag ist, weil die S-Bahn GmbH Jahr für Jahr vom Winter überrascht wird. Zu wenige Züge, die zudem noch kürzer sind und seltener fahren führen zu drangvoller Enge. Wer nicht unbedingt zur Arbeit oder Schule muss, kann auf andere Tageszeiten ausweichen. Wem dies nicht vergönnt ist, der hat eben Pech gehabt. Manche Fahrgäste wollen von den Zugabfertigern wissen, wann es wieder besser wird, oder wann der nächste Zug nach da und da kommt. Damit keine falschen Auskünfte gegeben werden können, wird das Personal nicht informiert. Das leuchtet doch ein. Wenn jemand pünktlich irgendwo sein muss, dann hat er eben Pech gehabt.

Da an einigen Bahnhöfen auch gebaut wird, müssen Kräne umgesetzt werden, Zugänge zum Bahnsteig geschlossen und die Fahrgäste zu anderen, behelfsmäßigen Zugängen geleitet werden. Die Bauarbeiter wissen nur, dass „jetze hier dicht gemacht“ wird, wo man jetzt zum Zug kommt aber nicht: „mir hat keener wat jesacht“. Wer nicht mehr so gut zu Fuß ist oder kein geeignetes Schuhwerk für Umwege durch Schneewehen angezogen hat, der hat einfach Pech gehabt.

So weit alles klar?

Jetzt machen wir einen großen zeitlichen Sprung: wir haben alle Hindernisse überwunden, sind auch bereits auf dem Bahnsteig, Füße und Hände lassen sich nur noch unter Schmerzen verwenden, das Schneegestöber pudert einen vorschriftmäßig ein und auch die Brille und die Haare bekommen so viel ab, dass, wenn man es in die Bahn geschafft hat und der Schnee zu tauen anfängt, Tropfen für Tropfen an der Nase entlang, zuerst nach vorne zur Spitze und dann in einem eleganten Schwung am Nasenflügel, der Schwerkraft folgend, auf Oberlippe, Unterlippe und vorwärts zum Kinn, dort sich sammelnd, in den Schal fließen kann. Es gibt natürlich auch Tropfen, die sich hinter dem Ohr vereinigend ohne Umschweife in den Schaal fallen lassen. Irgendwo auf dem Haupt des Menschen gibt es eine Wasserscheide.

Wir stehen also auf dem Bahnsteig, der Zug fährt ein. Der allergrößte Teil der Menschen, die zur Arbeit müssen, bleibt apathisch stehen. Entweder kommt man mit oder eben nicht, drängeln bringt nicht viel. Meistens kommt man ja mit, es sei denn man muss mit der Ringbahn fahren, dann hat man eben Pech gehabt. Ich muss nicht auf den Ring, also bleibe ich stehen, bis der Zug hält und die Türen aufgehen. Ich will einen Schritt nach vorne und in die Bahn einsteigen, als sich ein junger Mann, mit spärlichem Bartwuchs und Topffrisur, mit Pudelmütze und Pali-Tuch vor mich drängelt, um einen halben Schritt später im Zug festzustellen: „Ist ja alles voll hier!“ Was macht der Lackel eigentlich so früh auf dem Bahnsteig, kann der nicht wie jeder anständige Student zu Hause seinen Rausch ausschlafen?

Die anderen zwanzig Fahrgäste drängeln sich an dem Pali-Tuch-Träger vorbei (wetten, dass er ziemlich weit fahren muss und dass sich auf den folgenden Stationen wieder alle an ihm vorbei müssen?) in den Wagon. Wir stehen wie die eingelegten Sardellen eng an eng. Ich denke an meine Zeitung, die ich wohl wieder nicht lesen werde und ergebe mich in mein Schicksal. Der Zug ruckt an, festhalten ist nicht nötig und wäre auch nicht möglich. Jeder hat seine Arme am Körper, die Masse stützt sich gegenseitig. Plötzlich entsteht eine Unruhe. Der Pali-Mann kramt in seinem Beutel und holt eine kleines Döschen und einen Kaffelöffel heraus. Er öffnet die Dose und ein grau-weißer Schleim erscheint unter dem Deckel, mit Bröckchen drin. Das Zeug sieht aus wie das Katzenfutter, das ich manchmal meinen Mädels aufmachen muss. Die finden das klasse, gesund und wohlschmeckend, ich muss jedes Mal meinen Kopf wegdrehen, weil es ekelhaft aussieht und penetrant nach Fisch riecht (übrigens: Frischer Fisch ist etwas anderes, der riecht nämlich nicht nach Fisch). Mit leeren Augen löffelt das Pali-Männchen seinen Pannacottaersatz mit alten Heringstücken darin, die Fahrgäste um ihn herum – so auch ich – kämpfen bei Anblick und Geruch dieses Zeugs mit … Aber an dieser Stelle sollten wir, denke ich, den Bericht abbrechen.

Ob es wohl einen Zusammenhang gibt zwischen dem Tragen von Pali-Tüchern und dem Genuss von Dosenschleim? Irgendetwas Tiefenpsychologisches, an dem sich unsere Schulweisheit bislang die Zähne ausgebissen hat?

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nnier, Montag, 17. Januar 2011, 10:15
An dem Doseninhalt jedenfalls hat sich wohl niemand die Zähne ausgebissen. Mir wird schon beim Lesen schlecht, so wunderbar die S-Bahn-Szene auch geschildert ist, bzw. gerade deshalb, und ich freue mich besonders an dem so passend gewählten Ausdruck "abbrechen".

g., Dienstag, 18. Januar 2011, 05:54
Was das wohl für Zeug war?