Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Wem die Stunde schlägt
Meine erste Armbanduhr habe ich mit 14 zur Konfirmation erhalten. Mitte der 60er Jahre war es keineswegs üblich, dass Kinder Uhren besaßen, vielmehr war es wie der Kauf des ersten Füllers in der zweiten Klasse der Grundschule ein ritualisiertes Ereignis. Uhren waren teuer, man bekam sie zur Konfirmation oder Firmung als erste Stufe des Erwachsenwerdens.

Ich bin in einer Neubausiedlung am Waldrand aufgewachsen und natürlich haben wir Kinder im Wald gespielt. Wir haben Baumhäuser gebaut, Gefangene befreit und Dämme in den kleinen Bach gebaut, der nur wenige Schritte in den Wald hinein, floss. Unser so geschaffener kleiner See wurde mit Krebsen, Molchen und Forellen bestückt, die wir im nahe gelegenen Flüsschen einsammelten.

Dabei behielten wir immer auch die Zeit im Auge bzw. im Ohr, denn parallel zum Lernen der Uhr ( „Wenn der große Zeiger oben auf der Zwölf steht und der kleine Zeiger bei der Drei, dann ist es genau drei Uhr. Wenn der kleine Zeiger auf der Drei steht und der Große auch auf der Drei, dann ist es viertel vier.“ ) wurde uns auch beigebracht auf die Kirchturmuhr zu hören. Die dunkle Glocke schlägt die Stunden, die Helle die Viertelstunden. Man muss nur mitzählen. Damit das auch klappt, wurde bei jeder Gelegenheit, also immer wenn die Kirchturmuhr anschlug und meine Eltern oder meine Brüder daran dachten, geübt. Bong, Bong, Bong! „Hörst du? Zuerst die dunkle Glocke. Na?“ Ich musste dann mitzählen und dann die Stunde sagen. „Jetzt die helle Glocke, hörst du?“ Bing. Viertel vier, ganz einfach. So konnten wir als Kinder immer feststellen, wie spät es war. Insbesondere Im Sommer, wenn es lange hell ist, war das wichtig. Mein Vater kam kurz nach sechs von der Arbeit nach Hause und kurz danach gab es Abendbrot, zu dem wir uns alle versammelten. Wenn man nicht pünktlich kam, gab es Ärger und da wir gelernt hatten, auf die Uhr zu hören, gab es auch keine Entschuldigung. Na gut, gelegentlich durfte man es im Eifer des Spiels auch mal vergessen. Aber eben nur als Ausnahme.

Noch heute zähle ich im Stillen mit, wenn Glocken ertönen. Gelernt ist schließlich gelernt.
Inzwischen bekommen Kinder Uhren wohl schon viel früher und es besteht keine Notwendigkeit mehr auf die Glockenschläge zu achten.

Letztens wollte ein junger Mann von mir wissen, wie spät es eigentlich sei. Bevor ich den Ärmel meiner dicken Winterjacke hochziehen konnte, schlug die Uhr an und so habe ich einfach, ohne nachzudenken, mitgezählt.
Der junge Mann wurde ungeduldig und fragte sich wohl, was ich da tue.
„Viertel nach drei“ sagte ich zu ihm.
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Die Uhr hat gerade geschlagen.“
„Das wäre mir viel zu mühsam“ meinte er und ging.
Tja, dachte ich, keine Uhr haben, aber auf den Glockenschlag zu hören, mühsam finden.

Schade eigentlich, dass niemand mehr darauf hört, welche Stunde es geschlagen hat.

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nnier, Montag, 10. Januar 2011, 09:40
"Was - eine Uhr hast du gekriegt!?", das war auch die Reaktion meines Großvaters, als ich zu Grundschulzeiten eine Armbanduhr bekommen hatte. Das war noch eine analoge zum Aufziehen, keine unschätzbare Kostbarkeit mehr wie zu seiner Zeit, aber auch noch lange nicht das Wegwerfobjekt, das als knopfzellenbetriebenes LCD in jeden Kuli eingebaut wird, sondern ein echter Wertgegenstand. Übrigens kam auch er daher, wo man selbstverständlich "viertel" und "dreiviertel" sagt, was ich auch ziemlich einsichtig finde, da man schließlich auch "halb" sagt - ich weiß aber, dass diese Ausdrucksweise vielerorts für Befremden sorgt.

Ich selber trage seit Jugendzeiten (als eine Digitaluhr mit Alarm noch etwas ganz Tolles war) keine mehr am Armband. Statt dessen hole ich in den letzten Jahren das Mobiltelefon heraus. Und komme mir dabei manchmal ziemlich bescheuert vor.