Georg Forster: Reise um die Welt 62-4
(Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
(Seefahrt von den freundschaftlichen Inseln nach Neu-Seeland – Trennung von der Adventure – Zweyter Aufenthalt in Charlotten-Sund)
g. | Donnerstag, 17. Dezember 2009, 05:53 | Themenbereich: 'Notate und Anmerkungen'
(Fortsetzung von Forster 62-3)Thesen über den Ursprung des Kannibalismus.
„Philosophen, die den Menschen nur von ihrer Studierstube her kennen, haben dreist weg behauptet, daß es, aller älteren und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menschenfresser gegeben habe: selbst unter unsern Reisegefährten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem einstimmigen Zeugniß so vieler Völker bisher noch immer nicht Glauben beymessen wollten. Capitain COOK hatte indessen schon auf seiner vorigen Reise aus guten Gründen gemuthmaaßt, daß die Neu-Seeländer Menschenfresser seyn müßten; und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen gesehen haben, kann man wohl im geringsten nicht mehr daran zweifeln. Über den Ursprung dieser Gewohnheit sind die Gelehrten sehr verschiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn Canonicus PAUW zu Xanten RECHERCHES PHILOSOPHIQUE SUR LES AMERICAINS ersehen werden kann. Er selbst scheint anzunehmen, daß die Menschen ursprünglich durch Mangel und äußerste Nothdurft darauf verfallen sind, einander zu fressen. Dagegen lassen sich wichtige Einwürfe machen, und folgender ist einer der stärksten: Wenig Winkel der Erde sind dermaßen unfruchtbar, daß sie ihren Bewohnern nicht so viel Nahrungsmittel liefern sollten als zur Erhaltung derselben nöthig sind; und diejenigen Länder, wo es noch jetzt Menschenfresser giebt, können gerade am wenigsten für so elend ausgegeben werden. Die nördliche Insel von Neu-Seeland, die beynahe 400 See-Meilen im Umfange haben mag, enthält, so viel sichs berechnen läßt, kaum einhundert Tausend Einwohner; welches für ein so großes Land, selbst alsdann noch, eine sehr geringe Anzahl ist, wenn auch nur allein die Küsten und nicht die innern Gegenden des Landes durchaus bewohnt seyn sollten. Wenn aber auch ihrer noch weit mehrere wären; so würden sie sich doch alle von dem Überfluß an Fischen und vermittelst des Landbaues der in der BAY OF PLENTY und andrer Orten angefangen ist, zur Genüge ernähren, ja sogar den Fremden noch davon mittheilen können, welches sie auch würklich gethan haben.“
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„Man weis, daß sehr geringe Ursachen oft die wichtigsten Begebenheiten auf dem Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zänkereyen die Menschen sehr oft bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Ebenso bekannt ist es, daß die Rachsucht bey wilden Völkern durchgängig eine heftige Leidenschaft ist, und oft zu einer Raserey ausartet, in welcher sie zu den unerhörtesten Ausschweifungen aufgelegt sind. Wer weiß also , ob die ersten Menschenfresser die Körper ihrer Feinde nicht AUS BLOßER WUTH gefressen haben, damit gleichsam nicht das geringste von denselben übrig bleiben sollte? Wenn sie nun überdem fanden, daß das Fleisch gesund und wohlschmeckend sey, so dürfen wir uns wohl nicht wundern, daß sie endlich eine Gewohnheit daraus gemacht und die Erschlagenen ALLEMAL aufgefressen haben: Denn, so sehr es auch unsrer Erziehung zu wider seyn mag, so ist es doch an und für sich weder unnatürlich noch strafbar, Menschenfleisch zu essen. Nur um deswillen ist es zu verbannen, weil die geselligen Empfindungen der Menschenliebe und des Mitleids dabey so leicht verloren gehen können. Da nun aber ohne diese keine menschliche Gesellschaft bestehen kann; so hat der erste Schritt zur Cultur bey allen Völkern dieser seyn müssen, daß man dem Menschenfressen entsagt und Abscheu dafür zu erregen gesucht hat. Wir selbst sind zwar nicht mehr Cannibalen, gleichwohl finden wir es weder grausam noch unnatürlich zu Felde zu gehen und uns bey Tausenden die Hälse zu brechen, blos um den Ehrgeiz eines Fürsten, oder die Grillen seiner Maitresse zu befriedigen. Ist es aber nicht Vorurtheil, daß wir vor dem Fleische eines Erschlagenen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen ihm das Leben zu nehmen? Ohne Zweifel wird man sagen wollen, daß ersteres den Menschen brutal und fühllos machen würde.“
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„Die Neu-Seeländer fressen ihre Feinde nicht anders als wenn sie solche im Gefecht und in der größten Wuth erlegt haben. Sie machen nicht Gefangene um sie zu mästen und denn abzuschlachten, noch weniger bringen sie ihre Verwandten in der Absicht um, sie zu fressen: (wie man wohl von einigen wilden Nationen in America vorgegeben hat) vielmehr essen sie solche nicht einmal wenn sie natürlichen Todes gestorben sind. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß in der Folge der Zeit dieser Gebrauch bey ihnen ganz abkommen wird. Die Einführung von neuem zahmen Schlacht-Vieh kann diese glückliche Epoche vielleicht befördern, in so fern nemlich größerer Überfluß, mehr Viehzucht und Ackerbau das Volk näher zusammenbringen und es geselliger machen wird.“
(Forster S. 445-9)
(Rachsucht bei wilden Völkern, eine heftige Leidenschaft, zu einer Raserei ausartet, unerhörtesten Ausschweifungen)