Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Erlebnis oder Erfahrung
Man erlebt ja ne Menge jeden Tag. Daraus wird nicht automatisch eine Erfahrung. Man fährt zur Arbeit, erledigt sie, verrichtet allerlei Tätigkeiten, geht aufs Klo, atmet einige Liter Luft weg.

Aus der Fülle des Erlebens wirkt nur wenig nach. Welche Dinge, die mir widerfahren oder die ich tue, prägen – sei es Unwichtiges oder Wichtiges – das Denken, Verhalten oder Fühlen und sei es nur in der Masse? Wie interpretiere ich das Erlebte oder Getane?

Erfahrung ist verarbeitetes Erleben und historisch und sozial bestimmt. Auch hier ist natürlich die Frage: richtig oder falsch und nach welchem Maßstab? Der Maßstab muss realitätstauglich sein und die Erfahrung muss sich in ihr bewähren.
Insofern kann es keine religiöse, keine ‚innere‘ Erfahrung geben.


Fragen, die sich schon David Hume gestellt hatte



Und: nein, Hume war kein Positivist.

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damals, Freitag, 25. April 2014, 16:04
Versteh ich jetzt nicht. Wenn man religiöse Erlebnisse hat (Extasen, Gottesbegegnungen, göttliche Hinweise - was weiß ich) und diese dann zu Erfahrungen verarbeitet, warum soll man die nicht mehr "religiös" nennen dürfen, nur weil sie im Zuge dieser Verarbeitung (selbstverständlich) historisch und sozial überformt werden (sonst könnte man sie in der realen Welt ja nicht nutzen)?

g., Samstag, 26. April 2014, 09:05
Erfahrungen (‚fahren‘) kann man nur in der Wirklichkeit machen, mit Menschen und Naturphänomenen. Aus diesem Grunde schrieb ich ‚insofern‘. Religion ist eine Wahrnehmungs- und Deutungsform, etwas ‚Außerweltliches‘. Kirche ist real (ein Gottesdienst ist beispielsweise eine Gemeinschaftserfahrung von Menschen, die zumindest einen ähnlichen Glauben haben, die eine ähnliche Weltsicht teilen.), Religion nicht.
Gottesbegegnungen etc sind Phantasmagorien - wie 'real' sie dem Gläubigen auch immer vorkommen mögen.

damals, Montag, 28. April 2014, 00:17
Okay, verstanden. Wir haben über verschiedene Dinge geredet: Sie meinten mit "Realitätstauglichkeit" tatsächlich Realität ("richtig oder falsch"), ich dagegen Alltagstauglichkeit.
Den Ursprung einer Erfahrung halt ich in der Tat für nebensächlich: Wenn etwas gut funktioniert, was sollte ich dann mit einem "Stimmt aber nicht!" daran herummäkeln?

g., Dienstag, 29. April 2014, 06:37
Begriffe sollen ja Dinge, Verhältnisse usw. fasslich machen, sie sollen verdeutlichen, einen Erklärungswert haben. Dazu ist es meines Erachtens immer hilfreich, den Assoziationsgehalt (was evoziert ein Begriff?) zu beschreiben.
Um gekehrt spricht natürlich nichts dagegen, eine Begriff wie Erfahrung metaphorisch auf ‚geistige‘ Vorgänge zu übertragen. Man muss sich - denke ich – nur darüber im Klaren sein, dass es sich dabei nicht um eine Erfahrung sondern um ein ‚so ähnlich wie‘ bzw. ‚für mich so bedeutend wie‘ handelt. Wenn das nicht geschieht läuft man Gefahr, seine Phantasien, seine gedanklichen Konstrukte umstandslos der Welt über zu stülpen. Wittgenstein war ja der Meinung, dass die meisten philosophischen Aussagen nicht falsch sondern schlicht unsinnig seien.
Die meisten religiösen Menschen haben mit dieser Differenz ihren Frieden gemacht und leben im Alltag wie jedermann in der Welt und machen darin ihre Erfahrungen, die sie nach den allgemein üblichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern bewerten und für sich fruchtbar machen, ihre Religion auf den sonntäglichen Kirchgang und tradierte Rituale wie Hochzeit oder Begräbnis beschränken, praktische Entscheidungen über Schul- oder Kitawahl aber nach pädagogischem Konzept oder Ortsnähe treffen. Friedrich Hölderlin hat das in der Form: „Der Glaube darf nie positiv werden.“ ausgedrückt.
Das ja durchaus nachvollziehbare Problem ist natürlich: welche Funktion hat dann Religion noch, außer für die außerweltlichen Fragen (was geschieht nach dem Tod? Was ist der Sinn des Lebens?) zuständig zu sein? Ein CDU-Politiker (der Name ist mir nicht mehr in Erinnerung, Beckstein?), der auch in der Synode der EKD aktiv ist stellte an seine Bischöfe angesichts der Position der EKD zur Homosexualität (?) die Frage: ‚Alles schön und gut. Gesellschaftspolitisch gut begründet. Nur: mir fehlt die theologische Begründung‘! (aus dem Gedächtnis, nur ein sinngemäßes Zitat) Die Position der EKD war übrigens akzeptabel. Mir fehlt – ehrlich gesagt - die Phantasie, wie eine theologische Begründung jenseits des ‚Wir sind alle Kinder Gottes‘ dazu aussehen könnte, aber egal. Sein Bedürfnis nach positivem Weltbezug kann ich nachvollziehen. Es ist aber nicht unproblematisch wie das Beispiel Heidegger auf einem anderen Felde zeigt.
In der Welt machen die Kirchen eine Fülle sinnvoller Dinge, die man nur im Detail kritisieren kann.

damals, Mittwoch, 30. April 2014, 00:41
Auf die Gefahr hin, dass wir uns festbeißen, antworte ich ausführlich: Ja, der Knackpunkt liegt meines Erachtens in der Differenz von Philosophie und sinnvollem Alltag. Wenn man es philosophisch sieht, dann wohnt religiösem Denken selbstverständlich per se etwas Dogmatisches inne, das - wenn man drüber nachdenkt - gar nicht geht. (Das ist wohl der Grund, weshalb ich mich letztlich als ungläubig betrachte). Deshalb ist ja Theologie so etwas Furchtbares: Da wird versucht, wissenschaftliche Begründungen für etwas zu finden, das wissenschaftlich nicht begründbar ist: Ich hab in meiner Begeisterung für Bonhoeffer - weil ich schon so viele tolle Sätze von ihm gelesen hatte - mal ein theologisches Buch von ihm (Die Nachfolge") gekauft, aber das ging gar nicht: da er da alle Nase lang irgendwelche Verrenkungen macht, um Unbegründbares zu begründen. Bonhoeffer als Essayist, als spirituell Denkender, als religiös Handelnder, Bonhoeffer also im praktischen Lebenszusammenhang - wunderbar, als Theologe fand ich ihn enttäuschend.
Was zum Ihr Beispiel mit der Homosexualität berifft: Ich finde, da braucht es einfach den Willen der Religionsgemeinschaft, das einfach begründungslos festzustellen, dass die Liebe Gottes zu seinen Kreaturen selbstverständlich auch Homosexuelle umfasst (andernfalls hätte ja Gott bei ihrer Erschaffung einen "Fehler" gemacht, und schließlich ist er unfehlbar). Das lässt sich vielleicht nicht aus Bibeltexten beweisen, wohl aber aus der eigenen religösen Überzeugung.
Sie fragen, wozu man dieses Religiöse überhaupt braucht: Ja, natürlich für die KITA-Wahl. Wer da rein pragmatisch vorgeht, wird immer irgendwie unzufrieden bleiben, da ja immer eine noch besserere KITA denkbar bleibt. Solche grundsätzliche Unzufriedenheit ziehmt aber nur dem Philosphen und dem Ökonomen. Wer als Mensch in der Welt irgendwie mal geerdet, bodenständig sein will, sich und die Anderen bedingungslos annehmen will, kurz: sinnvoll leben will - jenseits des üblichen besserwisserischen Kosten-Nutzen-Pragmatismus, der unsere Welt zugrunde richtet, tja, der braucht irgendwie etwas Religiöses, so doktrinär und idiotisch dessen Kern auch immer ist (und sein muss), wenn man genauer drüber nachdenkt. Oder?

... ach, und was Heidegger betrifft: Der wäre doch sicher auch ohne mythisches Denken Antisemit gewesen. Lenin beispielsweise dachte alles andere als mythisch, dennoch unterliefen ihm vergleichbare Denkfehler in punkto Menschenmissachtung.

g., Donnerstag, 1. Mai 2014, 09:46
Zunächst: zu Lenin mag ich mich nicht äußern, da ich schlicht nichts von ihm gelesen habe und meine Kenntnisse der Oktoberrevolution mehr als lückenhaft sind.

Das Heideggerbeispiel sollte illustrieren, dass man den Kopf nicht mit erhabenen Gedanken zupflastern soll. Polemisch zugespitzt: Je mehr große Gedanken desto anfälliger. Ob Heidegger auch ohne sein hermetisches Philosophieren Antisemit geworden wäre? Keine Ahnung. Ich denke aber, dass es aus der gleichen Suppe stammt. Wenn man sein Denken nicht erdet, sich nicht von Erfahrungen im Sinne von wahrnehmen und verarbeiten von Wirklichkeit leiten lässt, kann man auch leicht abdriften. Mein Vater beispielsweise saß in der Schule neben einem Juden. Die antisemitische Propaganda perlte an ihm ab: Warum sollte der Sowieso ein schlimmer Mensch mit geheimen Absichten sein? Er hielt das für dummes Zeug.

Ach ja: würden sie wirklich ihr Kind in eine konfessionelle Kita (welcher Konfession?) schicken, auch wenn als Alternative eine Kita mit besserem pädagogischen Konzept (und Umsetzung) zur Verfügung steht? Ich selbst wurde in einen katholischen Kindergarten gesteckt, obwohl ich damit schlecht zu recht kam. Es gab halt keine Alternative.

Bonhoeffers Bedürfnis, eine theologische Begründung seines Handelns zu finden, kann ich übrigens gut nachvollziehen.

g., Montag, 5. Mai 2014, 08:12
Nachtrag: ein philosophisch anspruchsvoller Essay, der ganz gut zu unserer Debatte passt: Der Streit um Gott.

damals, Montag, 5. Mai 2014, 18:07
Vielen Dank für den Hinweis auf den Essay, dessen respektvollen Tonfall ich mochte, wenn er mir inhaltlich auch (Sie können sich das sicher denken) nicht so recht passte in seinem Versuch, das Religiöse vom Spirituellen ins Gedankliche (also letztlich theologische) zu überführen.
Zur KITA wollte ich noch was sagen. Da haben wir uns, glaube ich, ganz missverstanden: an konfessionelle Kitas dachte ich dabei wirklich zu aller letzt. Ich meinte, dass man schlicht nicht in der Lage ist, die Umsetzung eines pädagogischen Konzepts seriös zu beurteilen, wenn man sich so eine Einrichtung 2-3mal anguckt, um eine Entscheidung zu fällen. Es braucht ein Gespür, das Richtige zu tun (Gottvertrauen), und den Glauben, dass das in Ordnung ist. Dieses Gespür wird einen nicht unbedingt zu einer konfessionellen KITA fuehren.
Vielleicht unterscheidet uns gar nicht die Art des Handelns, nur die gewaehlte Begrifflichkeit. Daher meine Skepsis gegenueber Begriffen.