Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Kartoffeln, Kohl und fettes Fleisch
Bis vor einigen Jahren hatte ich bei mir in der Straße noch einen Zigarettenhändler. Dann kam die Phase, in der unsere Gegend so nach und nach alle Einzelhändler verlor, weil jeder der Alteingesessenen, der noch einen einigermaßen ausreichenden Verdienst hatte, wegzog in eine bessere Gegend. Nach und nach – dank öffentlicher Förderung – berappelte sich der Kiez wieder und zu den noch Verbliebenen gesellten sich Besserverdienende.
Ich ging gerne zu dem Händler, weil man immer auch ein Schwätzchen halten konnte und er einer der Leute im Kiez war, der mir viel und gerne über die Geschichte und Geschichten vor und nach der Wende erzählte. Schade, dass er die Segel streichen musste.

Es war an einem Tag wie diesem: Klirrender Frost, verkrustete Schneewehen und dieser eisige Wind, der einem unter der Hose die Beine hoch streicht und das Gefühl vermittelt, man könne die Kälte keine zehn Minuten länger aushalten. Dick eingepackt öffne ich die Tür des Ladens und schließe sie wieder eilig. Die Brille beschlägt. Ich nehme sie ab, lächle den Händler an und trete vor.
„Herrje, ist das kalt.“
„Nicht so schlimm.“
Ich sehe ihn an und bemerke erst jetzt, dass er über der Jeans nur ein T-Shirt trägt. Er scheint es tatsächlich nicht so schrecklich kalt zu finden. Der Laden hatte nur Einfachfenster und der kleine Kohlenoffen, der den Laden beheizte, kam gegen die minus zwanzig Grad im Freien nur mäßig an. Es war schätzungsweise knapp unter null Grad im Lokal.
„Holst du dir keine Erkältung, wenn du nur im Shirt hier stehst?“
„Aber nein. Ich empfinde es nicht als so kalt. Weißt du, ich habe an der Gaspipeline durch Sibirien und Russland mitgearbeitet, da können mich zwanzig Grad Kälte nicht schrecken.“
„Dieses Röhren-/Gasgeschäft damals? Konnte man da als DDRler so einfach mitarbeiten?“
„Na einfach nun auch nicht, aber das Kombinat, bei dem ich damals tätig war, war im sozialistischen Block führend bezüglich gewisser Schweißtechniken und so wurde ich gefragt, ob ich mit meiner Brigade beim Bau mithelfen wolle. Da habe ich zugegriffen. Der Verdienst war gut, jeder erhielt noch für sich und seine Familie für zwei Wochen einen Ferienplatz auf der Krim und es war eine Möglichkeit aus dem Alltag hier eine Weile heraus zu kommen.“
„Wie lange hast du es gemacht?“
„Lass mich überlegen? Fast ein Jahr, glaube ich?“
„Russisch konntest du?“
„Na ja, mit dem Schulrussisch aus der EOS kommst du natürlich nicht weit, aber ich habe Verwandte in der Nähe von Magnitogorsk und …“
Ich musste ihn wohl fragend angesehen haben, denn er erklärte mir freundlich und geduldig so einige sehr grundlegende geographische Fakten über die Sowjetunion, den Ural und einige der wichtigsten Städte in diesem Teil der Erde.
Nun wir plauderten noch eine Weile, gelegentlich kamen andere Kunden, die zwischendurch bedient wurden und am Schluss sagte er zu mir:
„Es ist natürlich keine reine Sache der Gewöhnung. Um mit Kälte zu Recht zu kommen, muss man sich natürlich auch entsprechend ernähren, also: fettes Fleisch, Kartoffeln und Kohl, und davon viel!“

Man wird ihm kaum wiedersprechen können, nur weckte seine Erzählung von reichhaltigem Essen, Wodka und Temperaturen von minus 30 oder 40 Grad, nette Russen hin oder her, keine Begeisterung bei mir für kalte Regionen, Schnee und Eis.
Ich musste vielmehr beim weiteren Frieren auf meinem Heimweg daran denken, dass ich ein Mal, ein einziges Mal in meinem Leben einen Winter ausgelassen hatte und dass ich das sehr genossen hatte.

Es war einige Jahre vorher, an einem Sonntagnachmittag im Januar 1979, als ich mit einer Badehose bekleidet in einer Hängematte auf den Islas Galapagos im Garten der Herberge, die Gus Angermeyers Frau damals betrieb und eine deutsche Tageszeitung las. Der Aufmacher der Zeitung war: Kältewelle in Deutschland dauert an. Neben der Überschrift war ein Bild – ich glaube aus Hamburg – mit einer Schneewehe, die bis knapp unter ein Stoppschild reichte. Ich trank einen Schluck Orangensaft, kratzte mich am Kopf und dachte: Da möchtest du jetzt nicht sein. Du möchtest jetzt nicht in einer deutschen Großstadt frieren. Du möchtest jetzt genau das tun, was du im Augenblick tust: In der Hängematte auf einer der schönsten Tropeninseln, die es auf der Welt gibt, liegen, Saft trinken und eine Zeitung lesen, die über eine Kältewelle an einem Ort berichtet, an dem du exakt jetzt nicht bist. Das möchtest du tun.

Und das könnte ich noch einige Male in meinem Leben tun. Glauben Sie mir.

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kurbjuhn, Dienstag, 7. Februar 2012, 08:17
"Da möchtest du jetzt nicht sein" kenne ich nur zu gut. Ein paar Jahre lang sind wir jeweils ein paar Wochen lang vorm Winter geflohen, haben das aber aufgegeben, weil das Zurückkommen zu schrecklich war. Beim letzten Mal habe ich erwogen, mich zu weigern das Flugzeug zu verlassen.

g., Mittwoch, 8. Februar 2012, 06:20
Mich überkommen die Fluchtgedanken wenn das WSA den Eisbrecher einsetzt. Das Zurückkommen in die Kälte ist in der Tat fürchterlich. Ich träume ja gelegentlich von einem Häuschen im Süden. Allerdings darf man sich in solchen Momenten seine Kontoauszüge nicht ansehen, sonst überfällt einen die Melancholie (oder die Naschsucht).

terra40, Mittwoch, 8. Februar 2012, 11:15
Kältewelle
Dennoch. Singt nicht die Schubert-Sängerin so herrlich schön: "Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück." Damit könnte die Kältewelle in Deutschland gemeint sein. Oder?
Gruß, T.