Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Die rauchende progressive Universalpoesie
Im ersten Semester meines Studiums bin ich in der ersten Vorlesungswoche in geschätzt zwanzig Einführungsveranstaltungen von Grundkursen gegangen, um die Dozenten zu begutachten und mangels feststehender Vorlieben für bestimmte Epochen oder Texte, mir von dem Angebotenen irgendetwas herauszusuchen, das Freude am Gegenstand und Zugang zu wissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur versprach.
An die neunzehn ausgesiebten Veranstaltungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Deutlich wurde allerdings, dass in vielen Grundkursen Selbstdarstellungskünstler unter den Studis und den Dozenten reichlich im Angebot waren. Ob ich mir eine Liste der auf jeden Fall zu vermeidenden Autoren und Texte und natürlich auch bestimmter Dozenten anfertigte, weiß ich nicht mehr. Sinnvoll wäre es auf jeden Fall gewesen.

Hängen geblieben bin ich bei einem Grundkurs über die Frühromantik. Der Dozent, Prof. H.-G. R. war lustig und demonstrierte ad personam mit seiner überbordenden Egozentrik ganz gut das frühromatische Genieideal.
Es war ‚reine’ Literaturwissenschaft, die sich um eine soziohistorische Bestimmung nicht groß scherte. Das ist ja nicht das Schlechteste.

An was ich mich erinnern kann ist Lucinde, ein Roman von Friedrich Schlegel, den ich als grauenhaftes Gestoppel in Erinnerung habe und eben die progressive Universalpoesie.
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.“
(Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente 116)
Ich weiß noch, dass mir als Erstes durch den Kopf schoss: Ziemlich große Fresse, der Schlegel. (Nebenbei: Romantik meint hier romanhaft)

Bei Durchsicht der alten Reclamausgaben fällt auf, dass ich mich wohl einigermaßen intensiv mit Schlegels Brief über den Roman auseinandergesetzt habe. Hier sind die meisten Unterstreichungen sichtbar. Was der Friedrich Schlegel zum Roman meint, ist mir aber nicht in Erinnerung geblieben, obwohl ich mich für Romantheorie immer schon interessiert habe.

Sehr deutlich in Erinnerung ist mir aber nach all den Jahren die Lex R. Dabei handelt es sich, wie uns schon in der Einführungssitzung mitgeteilt wurde, um das nach dem Dozenten benannte Gesetz, dass im Seminar niemand rauchen dürfe außer dem Dozenten und auch der dürfe es nur aus dem geöffneten Fenster (demnach konnte es sich nur um das Sommersemester gehandelt haben) paffend. Die Begründung war so einleuchtend wie simpel. Wenn ihm das Rauchen nicht gestattet würde, könne er kein Seminar abhalten und wenn jeder, der rauchen wolle auch rauche, sei es für die Nichtraucher unerträglich.
Das Seminar war lustig und einigermaßen ertragreich, auch wenn einem vor lauter Arabeskengeklingel ganz komisch im Magen wurde und bis auf die Selbstdarstellungskünste einiger höherer Semester, die wie unser Dozent süffisant anmerkte, wohl nur in einen Grundkurs kämen, um neue Bewunderer zu rekrutieren.

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