Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Mein Nachbar, der Herr S.
macht sich so seine Gedanken zur Welt. Und damit die Welt sie erfährt, teilt er sie auch mit, und zwar mir. Meist am Abend steht er vor seiner Fahrschule und raucht eine Zigarette („Eigentlich sollte man aufhören, und teuer ist es auch, aber sie wissen ja wie das ist, und im Übrigen ist ja nicht erwiesen und ...“). „’n Abend, wie geht’s, geht’s gut? Haben sie schon gehört? ...“ Und dann erzählt er mir etwas vor, von Wirtschaft und Politik („Der Wowereit, der packt das nicht“), von seinen Fahrschülern („und ich sach noch zu ihm, was glauben se denn, wofür der Rückspiegel gut ist?“), von seinem Sohn („studiert jetze, Wirtschaft, sag’ ich ihnen“) oder von Fußball („die haben ja keine Ahnung, einen Verteidiger, wie den Katsche Schwarzenbeck, den finden sie heute nicht mehr, wie der damals den, wie hieß der noch mal?, also wie der den hat auflaufen lassen ...“).

Es stört Herrn S. nicht, wenn man nur einsilbig antwortet.

Störend findet er Widerspruch und ich habe meist eine andere Meinung. Dann zieht er seine Augenbrauen hoch und starrt einem auf die Nasenwurzel: „Blödsinn! Ihr Linken glaubt ja immer ...“

Ich widerspreche nicht mehr so häufig.

„’n Abend, ganz schöner Verkehr heute?“
„Guten Abend, Herr S., ja der Verkehr ist heftig. Jeden Morgen und jeden Abend brettern hier bei uns die Autos über das Kopfsteinpflaster. Was ich ja nicht verstehe, ist, warum sich alle bei uns, in einer Tempo 30 Zone, durchquälen, wenn einen Block weiter eine gut ausgebaute Straße parallel verläuft und ...“
„Wegen der Ampel, natürlich! Wenn sie hier durchfahren, sparen sie eine Ampel. Ist doch klar!“
„Na ja, Ampel hin oder her. Wenn die Leute die X-Straße nehmen würden, wären sie schneller.“
„Zeit braucht man so und so. Und hier muss man halt nicht dumm rum stehen.“
„Aber Herr S., sehen sie doch, hier stehen die Autos doch auch. Die Straße ist doch viel zu eng für die Massen im Berufsverkehr. Und eine Menge Sprit und Nerven kostet es doch auch, wenn man hier fünfzig Meter beschleunigt, bremst, wieder aufs Gas und so weiter.“
„Wer tankt schon hier in Berlin? Ich lege meine Stunden immer so, dass ich mit dem Wagen schnell über die Grenze komm. Ich bin doch nicht blöd und tanke für den Finanzminister.“
„Sie fahren extra die hundert Kilometer nach Polen?“
„Ich lasse fahren. He He He! Bevor ich hier mein Geld dem Staat in den Rachen werfe!“

Kommentieren




jean stubenzweig, Mittwoch, 17. Juni 2009, 14:52
Was wählt der wohl im September? Und wen hat er gewählt?

Das ist (k)eine rhetorische Frage. Ich frage (mich) sowas ständig und hoffe, irgendwann mal eine Antwort samt Begründung zu erhalten. Vielleicht von Ihnen?

g., Donnerstag, 18. Juni 2009, 07:42
Nun, früher hat er CDU gewählt. Seit ihm sein Sohn erklärt hat, dass die CDU nach links abdriftet, wählt er FDP. Das erzählt er auch jedem.

Zur Erklärung: Der Mann hat ein solides Ensemble an Vorurteilen, die ihm die Welt vorstrukturieren. Als alter Frontstädter ist er vom Antikommunismus geprägt oder, was wahrscheinlicher ist, er ist in dieses Weltbild selbstverständlich hineingewachsen.
Victor Klemperer notierte am 23. Mai 1922 in seinem Tagebuch:
„Erblichkeit der Schlagworte. Bourget schreibt von Erblichkeit des Katholizismus. Auch Schlagworte erben sich fort wie angeborene Verkalkungen.“
Das ist m.E. der eine Punkt. Dazu kommt, dass er sich als „mittelständischer Unternehmer“ in den dort anscheinend üblichen kleinbürgerlichen Phantasmagorien bewegt. Ich war mal auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und durfte diese Denkweise einen Abend genießen: unbotmäßige Dienstboten, die man nicht mehr los wird und das Gefühl zu wenig Einkommen zu haben, genauer zu wenig im Vergleich mit wirklich Vermögenden. Abschaffung des Kündigungsschutzes und Steuersenkungen waren die dominanten Themen. „Dia nehmet uns ja Ois!“ heißt das, wenn ich Don Alphonso richtig zitiere, auf bayrisch.
Sein Sohn ist wohl einer dieser jungdynamischen „Liberalen“, wie man sie im Wahlkampf als FDP-Direktkandidaten bald wieder an jeder Ecke wird sehen müssen.
Wolfgang Kubicki hat das mal in einem Interview ganz gut auf den Punkt gebracht. Kubicki diskutiert das Thema des Rechtsruckes in der FDP zwar nur taktisch, aber immerhin hat er begriffen, dass sich die FDP seit Möllemann und Westerwelle verändert. Ich persönlich bin der Auffassung, dass es seit der Marginalisierung der Bürgerrechtsfraktion (damit meine ich z.B. Hildegard Hamm-Brücher oder Sabine Leutheuser-Schnarrenberger) zu spät zum zurückrudern ist.

Soweit erst mal.

jean stubenzweig, Donnerstag, 18. Juni 2009, 13:38
Ja, das ist schon grotesk: «Seit ihm sein Sohn erklärt hat, dass die CDU nach links abdriftet, wählt er FDP. »

Ich hatte, etwa bis zu dem von Ihnen erwähnten Zeitpunkt, auch nach einem Gespräch mit Gerhard Baum, durchaus Sympathien mit einigen dieser Parteimitglieder. Und habe. Es gibt noch ein paar wenige. Mit einer gewissen Verbeugung denke ich an Hildegard Hamm-Brücher oder Sabine Leutheuser-Schnarrenberger. Doch darauf wird es hinauslaufen: Koalition mit der «linken» CDU. Mit Frau Merkel an der Spitze, die, wie ich gelesen habe, von achtzig Prozent der deutschen Bevölkerung für kompetent gehalten wird, also wiedergewählt werden sollte. Ihr Nachbar wird zu denen gehören, die daran zweifeln. Weil er zu denen gehören wird, die der Meinung sind, es müsse endlich wieder aufwärtsgehen – die Gründe haben Sie genannt.

Und diese «kleinbürgerlichen Phantasmagorien» – Sie erinnern sich? Klaus Staeck zielte (ein paar Tage vor Don Alphonso, aber man kann es ja gar nicht oft genug sagen), in den Siebzigern mit Hilfe dieses Werkzeugs und (in Maßen) ironisch: «Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen.» Ihr Nachbar wird das beim Wort genommen haben. Aber da dachte noch niemand daran, was aus dieser Partei mal werden würde: daß sie sich selber nach ebendieser Villa sehnen würde. Aber das tun ohnehin nahezu alle, das war vor dreißig oder vierzig Jahren schon so. Aber früher haben sie allenfalls ihr Häuschen gebaut und ein Autochen gekauft, wenn Geld und, zur Absicherung etwaiger Kredite, ein sicherer Arbeitsplatz vorhanden war. Daß dem nicht mehr so ist – und es auch nicht mehr so sein wird, schon gar nicht mit Hilfe einer FDP-CDU-Koalition – nun ja ... Ich habe hier was schönes von Udo Leuschner, der sich mit der Geschichte der FDP beschäftigt hat:

Das Kleinbürgertum zwischen Duckmäuserei und "Gesinnungstüchtigkeit"
Unter dieser historischen Konstellation ziehen sich weite Teile des deutschen Bürgertums in eine psychische Verfassung zurück, wie sie der Demokrat Ludwig Pfau in seinem 1847 veröffentlichten Gedicht "Der gute Bürger" karikiert:
Schau, dort spaziert Herr Biedermeier
Und seine Frau, den Sohn am Arm;
Sein Tritt ist sachte wie auf Eier,
Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm!
Der Herr Biedermeier dieses Gedichts ist ein Mann, der geistlich spricht und weltlich trachtet. Er wohnt in einem schönen Haus und leiht sein Geld auf Wucher aus. Er ist kein Freund von Steuerzahlen, verehrt aber sehr die Obrigkeit. Wird er aufs Rathaus und vors Amt gerufen, zieht er den Hut schon auf den Stufen. Am Sonntag versäumt er keinen Kirchgang. Das wäre gegen die Christenpflicht. Dafür schlummert er, wenn der Pfarrer spricht. Er ist ein Geizhals. An Nachwuchs genügt ihm ein Sohn, den er in seinem Sinne erzieht, und dem er eines Tages sein Erbe hinterläßt.

g., Freitag, 19. Juni 2009, 06:06
Ach herrje, da fällt mir Dostojewski ein, dessen Raskolnikoff (bzw. Schuld und Sühne) ich vor einem Jahr gelesen habe. Da muss ich mal eine schöne Stelle heraus suchen. Und Diederich Heßling aus Heinrich Manns Untertan.

vert, Freitag, 19. Juni 2009, 06:42
ach, die berliner liberallalas.
eine freundin, parteimitglied dort, eine toughe erfolgreiche junge wissenschaftlerin, hat sich ganz daraus zurückgezogen, weil sie "die ganzen jungmänner-lebensversager nicht mehr ertragen kann - leben von papas geld, schwafeln von elite und leistungsgesellschaft und kriegen selber nix auf die kette!"
ich habe eine dunkle ahnung, wen sie da getroffen haben könnte.

(gibt es eigentlich immer noch die minderheitenarbeitsgruppe heterosexuelle männer?)

g., Freitag, 19. Juni 2009, 08:06
Nun ja, vert, was da so alles in den Eingeweiden rumort, kann ich nicht beurteilen. Ich nehm das nur über den Tagesspiegel zur Kenntnis und wenn ich mal in eine "politische" Aktion dieser Leute hineinstolpere. Dann guckt mich das feiste Gesicht von Herrn Lindner beim Burger schmatzen an. "Freiheit oder Sozialismus!", "Freiheit für MacDingenskirchen!", an Döner oder Pommes entscheidet sich, ob wir in einem freien Land leben. Jung, dynamisch, erfolglos (aber oho!) könnte schon hinkommen, aber bedenken sie: Zumindest die Direktkandidaten zeigen doch, dass die Armut in der Parteijugend (Steuern runter, Arbeitsplätze rauf!) wirklich dramatisch ist, sie haben sich seit ihrer Konfirmation keinen neuen Anzug mehr leisten können.

... und hacken sie doch nicht so auf dem Mann mit den Hautproblemen herum.