Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Dienstag, 10. August 2010
Otto Muehl
kennt heute niemand mehr (Warum ist er in meiner Erinnerung als Hans-Otto Mühl präsent? Na egal.). Vielleicht ist das auch nicht unbedingt schade.

Otto Muehl ist 3 Jahre jünger als mein Vater und hat mit 18 ein bisschen Krieg spielen dürfen, sein Vater war ein strenger und gerechter Volksschullehrer. Für die einen ist er ein zeitgenössischer Maler, für die Anderen ein verurteilter Straftäter, Psychoklempner und Sexguru.

Ich hatte einen Schulfreund, der Mitte der 70er Jahre plötzlich weg war. Nach einigen Monaten hörte ich, dass er wieder aus dem Burgenland zurück sei und besuchte ihn.

S. war ein Bauernlackel aus einem bedeutenden Dorf, das mit einer Bushaltestelle und einem Kaugummiautomaten gesegnet war und ich gehörte zu den Proletendeppen aus der nahe gelegenen Stadt. Beide hätten wir auf dem Gymnasium nicht wirklich etwas zu suchen – meinten einige Leute zu dieser Zeit. Sie galten als die ewig Gestrigen, deren Meinung und deren Hochmut man eben aushalten müsse. Irgendwann würden sie Sterben und dann blieben nur noch die Doofen übrig. Aber das wären nur ganz wenige. Heute ist dies in einigen Städten wieder Mehrheitsmeinung. Damals zu Zeiten der sozialdemokratischen Bildungsoffensive ging es um Chancen, Lebensqualität, mehr Demokratie, etwas später dann um Emanzipation und Umweltbewusstsein.

Was zumindest mir Mitte der 70er nicht klar war, dass wir alle unser Päckchen mit uns tragen und es auf glückliche Umstände, eigenes Bemühen, den richtigen Instinkt in bestimmten Situationen, die Bereitschaft Erfahrungen zu machen, nachzudenken, zu beobachten, und noch so einiges andere, ankommt. So ganz flott ging das ja alles nicht mit der neuen Zeit und später dann versuchte ich zu begreifen, warum manche Wege gingen, die ich beängstigend, verzweifelt oder wahnsinnig fand und ob das, was ich für richtig und vernünftig halte, denn auch richtig und vernünftig ist. Damit bin ich eigentlich auch noch heute beschäftigt.

Je nun, ich besuchte also den S. Wir tranken etwas vom Selbstgekelterten, probierten die Würste vom letzten Schlachttag und das selbstgebackene Brot des Vaters und ich ließ mir erzählen, was es denn mit Otto Muehl und der Aktionsanalyse und dem Burgenland so auf sich hat.

Es ginge um Befreiung, insbesondere um sexuelle Freiheit, um Emanzipation, um die Überwindung der herrschenden Verhältnisse und um …

„Ah ja, und wie findet dieses Aktionsanalyse jetzt ganz konkret statt?“ wollte ich wissen.
„Ich habe einen alten Schuh in den Mund nehmen und zum Chef bringen müssen.“
„Ich verstehe nicht?“
„Also, da ist ein Kreis von Teilnehmern der Analyse. In der Mitte des Kreises liegt ein alter Schuh. Du kriechst in die Mitte, nimmst den Schuh zwischen die Lippen und krabbelst dann zum Chef, ich meine zum Therapeuten. Er reißt dir den Schuh aus dem Mund und wirft ihn dann wieder in die Mitte. Das geht dann mehrere Male so, solange bis du losheulst und schreist und dann ist der nächst dran.“
„Ich verstehe immer noch nicht. Für was soll das gut sein?“
„Die eingefleischten Gehorsamsregeln müssen durchbrochen werden und dies geht nur, wenn man sich der Situation immer und immer wieder aussetzt. Nur so kann man sich von seinen überkommenen Verhaltensweisen, von der Sehnsucht nach Unterordnung und verklemmter Sexualität befreien.“ erzählte er.
„Befreiung wovon?“
„Von Verklemmungen, von den familiären Herrschaftsstrukturen. Nur mit einer wahrhaft freien Sexualität kann man auch als freier Mensch leben.“
„Aber Sex ist doch nur ein Teil …“
„Aber der Wichtigste!“ fiel er mir ins Wort.

Äh ja? Nun ja, nun ja und warum hilft es mir beim mauseln oder auf anderen Gebieten, wenn ich mich immer und immer wieder wie ein Stück Scheiße behandeln lasse?

Wenn ich mir das antun wollte, würde ich zu den Marins gehen.

Wir diskutierten noch eine Weile, ohne uns verständigen zu können. Was aus dem S. wohl geworden ist?

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