Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Fundstücke Spezial unter dem Motto: ein Esel schimpft den anderen Langohr
(Götz Aly und die 68er)
Und als Zugabe außerhalb des Mottos JOCHEN SCHIMMANG über 68

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jean stubenzweig, Montag, 16. Januar 2012, 10:23
Götz Aly
dippelt sich seit Jahren gegen die 68er die Finger wund. Das ist nichts neues. Aber die Leutchens brauchen offenbar Erinnerungsstützen. Und, vielleicht etwas flapsig: der Markt benötigt nunmal ständig neue Produkte. Ein bißchen kommt mir das vor wie eine Abwrackprämie (wobei auch das, was viele nicht wissen, ein «Plagiat» ist, denn Frankreich hatte es Mitte der Neunziger vorgemacht), also Subventionierung zur Marktbelebung, Absatzwirtschaft, Unterstützung der notleidenden (Kraftfahrzeug-)Industrie mittels Steuergeldern, christlich-soziale Marktwirtschaft. Die Tatsache, daß die Bundeszentrale für politische Bildung einen Teil der Buchauflage erworben hat, scheint mir darauf hinzuweisen. Ich kann mir nicht helfen, das klingt mir arg nach einem politisch einseitig gesteuerten Nachhilfeunterricht mit Aly als erstem Lehrer. Was war denn, aus meiner heutigen Sicht als jemand, der in den Anfängen, dem ersten Aufscheinen dieser Entwicklung als Student in die BRD kam? Am deutlichsten macht das wohl Cohn-Bendit: Es ist vorbei, aber es hat seinerzeit mächtig etwas in Bewegung gebracht. Ich führe vieles von dem, was heutzutage von den meisten als selbstverständlich gelebt wird, auf diese Zeit, auf diese historische Epoche zurück. Cohn-Bendit führt als Beispiel das vom Ehemann zu genehmigende Bankkonto an, aber die Gattin mußte auch um Arbeitsgenehmigung bitten; ich habe da ganz andere Sachen erlebt wie Kuppelei- oder Kranzgeldparagraph und einigem mehr, immer wieder muß ich Apo-Opa den Jungen davon erzählen, weil sie es für Märchen aus einem seit langem vergangenen Jahrhundert halten. Selbstverständlich muß den Jüngeren der historische Hintergrund vermittelt werden. Aber doch nicht auch noch mit die Tatsachen verdrehenden Einzelheiten, die meines Erachtens dem alten Klepper einer christlich-dogmatischen Lehre medienwirksam wieder auf die Hufe helfen soll. 68 ist Geschichte, die Leckerli behält man. Aber man kramt unter dem Deckmantel historischer Korrektheit vereinzelte Vergehen vor, weil die Masse (so es die überhaupt interessiert) sich das Ganze so besser merken kann — um die (wahrlich nicht fröhlichen) Urständ' vor dem Protest titels Sitte und Anstand besser wieder herstellen zu können?

Dank für Ihre Zusammenfassung. Pflichtlektüren.

Ich beziehe mich auf die ersten drei Texte sowie auf das Interview mit Cohn-Bendit. Der Rest folgt, wenn ich wach geworden bin.

g., Dienstag, 17. Januar 2012, 05:34
Dass die Bundeszentrale da ihre eigenen politischen Absichten zum Ausdruck bringt, ist mir auch sofort unangenehm aufgefallen. Da wird dann versucht über das (Geschichts-)Bild von 68 alte Kämpfe noch im nachhinein zu gewinnen.
Da ich mich nebenan etwas vorlaut in eine Diskussion über 68 eingemischt habe, war mein Frageinteresse an die Aly-Debatte noch etwas anders geprägt. Unabhängig davon, dass es Götz Aly mit seinen leichtfertigen Parallelen zwischen 33 und 68 seinen Gegner/ehemaligen Compa͠neros sehr leicht macht, die Kritik an den 68ern zurückzuweisen, tauchten bei mir eher so Fragen auf wie:
a) Was hat es eigentlich mit der s. g. ‚antiautoritären Bewegung’ auf sich gehabt, dass eine ganze Reihe von Vertretern (Thomas Smid, Henryk M. Broder, ...) inzwischen ziemlich weit nach rechts geschafft haben? Geht’s da nur um individuelle Lebenswege oder sind da auch Strukturidentitäten am wirken? Das K-Gruppen-Unwesen ist da nur ein Teil der Antwort, denke ich mal.
b) Die Selbstheiligsprechung von Groterjan, Onkel Narr und dem großen Dichter Schneider habe ich als schwer erträglich empfunden. Schimmang ist da eine völlig andere Gewichtsklasse.
c) Alys These von der Kompromissbereitschaft der Gegner ist vor dem Hintergrund der Großen Koalition Kiesinger /Brandt und wenn man die Konfliktlinien im Unterbau mit bedenkt, nicht völlig blödsinnig.
d) Das führt dann bei mir zu so Überlegungen, ob die Studentenbewegung wesentliche Impulsgeber der gesellschaftlichen Veränderungen war oder ob sie nicht viel stärker als Ausdruck jener Zeit wahrgenommen werden sollte, sozusagen eher als Symptom.
Na ja, wie immer im richtigen Leben muss man sich inmitten des Theaterdonners und der Prügeleien seinen Reim auf das alles machen.

g., Dienstag, 17. Januar 2012, 06:00
Gerade schießt mir Herzogs ‚Ruck’-Rede in den Kopf und ob sie auch – auf der persönlichen Ebene – unter dem Aspekt späte Rache interpretierbar wäre?
Natürlich ging es in erster Linie in dieser Rede um die geistig-moralische Wende, um die Propagierung liberaler Wirtschaftspolitik, aber Herzog war als NoFU-Vorsitzender dieser Zeit auch persönlich involviert. Na ja, so gut kenne ich Herzog nicht. Im Übrigen ist das auch nur ein Nebenaspekt. Obwohl ich gelegentlich darüber nachdenke, ob 68 nicht besser über die negativen Wirkungen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen zu beschreiben wäre. Aber da bewege ich mich auf sehr dünnem Eis.

damals, Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:01
Ihr Punkt d leuchtet mir sofort ein.

g., Samstag, 21. Januar 2012, 07:02
Das Problem ist natürlich, dass das nicht vorderhand zu entscheiden ist.

Typischerweise fällt mir angesichts ihres Interesses an der Diskussion ein, wie 68 wohl in der DDR aufgenommen wurde. Sie waren aber wohl zu jung, um darüber Auskunft geben zu können?

Aus meinem Blickwinkel, als den Erfahrungen von 1989/1990/91 in der DDR, fiel mir auf, dass von Habitus und politischen Einstellungen der ‚Alternativszene’ in der DDR vieles auf die 70er in der Bundesrepublik verwies. Ich erinnere mich noch an meine Verblüffung, dass von Friedensbewegung bis Ökoszene mir alles so bekannt vorkam. Wenn ich nur an die rauschebärtigen Pfarrer denke ... Und umgekehrt war ich erstaunt, dass man nur sehr selten DDR-Bürger traf, für die der Prager Frühling lebensgeschichtlich bedeutsam war. Aus Westsicht hätte ich das Gegenteil vermutet. Über die Reformbewegung (und ihre Niederschlagung) in der Tschechoslowakei wurde seinerzeit unter uns viel diskutiert. Reformansätze und gesellschaftliche Bewegungen interessierten uns sehr. Ich kann mich auch erinnern, dass es einige Bemühungen gab herauszufinden, wie das, jenseits der Berichterstattung in den Medien der Bundesrepublik, in der DDR diskutiert wurde. Es war nicht viel zu erfahren. (Über die Reaktion der DDR-Führung auf Proteste und die Ausbürgerungen natürlich schon.) Mir stellt sich das aus dem Blickwinkel der Wendezeit ff. jedenfalls so dar, dass in der Breite in der DDR eine – wie soll man das charakterisieren? – ‚extreme’ Fixierung auf die Bundesrepublik festzuhalten wäre. Ein DDR-spezifisches 68 scheint nur marginal stattgefunden zu haben. Aber, wie gesagt, das sind Wahrnehmungen aus einem sehr eingeschränkten Horizont.

In Puerto Cruz im Herbst letzten Jahres habe ich die Berichte der illegal im Ostblock Reisenden („Unerkannt in Freundesland“) gelesen. Der Prager Frühling und seine Wirkung in der DDR taucht dort zwar als Folie der Erfahrungen in vielen Berichten auf, aber eben nur als behauptete Folie. Konkret steht dazu nichts weiter. Beim Lesen konnte ich mich nicht entscheiden, ob die Randständigkeit damit zu tun hat, dass das nun schon einige Jahre her ist und deshalb für die Erzähler keine große Rolle mehr spielt oder ob es auch damals nur als Beleg für die Reformunfähigkeit der DDR wahrgenommen wurde und im Zentrum der Blick in die Bundesrepublik stand.

damals, Sonntag, 22. Januar 2012, 16:18
Tatsächlich bin ich zu jung, um mich persönlich erinnern zu können - es gibt zwar ein Erinnerungsbruchstück aus dem Kleinkindalter: dass ich mit großer Aufregung echte Panzer habe fahren sehen durch unsere Stadt - aber diese Erinnerung ist durch elterliche Erzählungen derart überformt, dass ich ihre Authentizität kaum garantieren kann. Für meine Eltern und einige ihrer Freunde bedeutet der Prager Frühling in der Tat viel, nämlich den endgültigen Abschied von ihrer Begeisterung für den Sozialismus. Nach diesem Einmarsch konnte kein Mensch mehr ernsthaft behaupten, dass aus diesem Ostblock nochmal irgendwas wird. (Mein Vater zog sogar berufliche Konsequenzen, indem er sich ein möglichst unpolitisches Betätigungsfeld suchte. Und Christoph Hein hat diese Bedeutung des Ost-1968 sehr treffend in "Der Tangospieler" dargestellt.) 1976 mit der Ausbürgerung Biermanns und dem Weggang (oder dem endgültigen Verstummen) der letzten verbliebenen kritischen Proiminenten war dann nur das Ende dieses kulturellen Sterbevorgangs. Wer danach noch irgendwie Opposition sein oder irgendwie jenseits von Depression oder Anpassung leben wollte, der musste sich doch an Westdeutschalnd orientieren. Die Möglichkeit irgendeiner selbstständigen oder ostblockorientierten Opposition war, so erinnere ich das, ad absurdum geführt (die Ausnahme der Jenaer Opposition bestätigt als Ausnahme die Regel). Den "Bruderländern" blieb die Möglichkeit einer national ausgerichteten Opposition, uns in der DDR blieb nur Westdeutschland. Und so kam es dann ja auch.

g., Mittwoch, 25. Januar 2012, 05:28
Herzlichen Dank für den Hinweis auf "Der Tangospieler". Das werde ich mir besorgen. Hoffentlich wird da einiges vom damaligen Lebensgefühl in der DDR deutlich. Von Christoph Hein kenne ich nur Drachenblut. Als ich die Erzählung Anfang der 80er las, tobte um mich gerade die Schlacht um das große I und das generische Maskulinum, da passte diese Novelle besonders schön. Aber das ist eine andere Geschichte

damals, Donnerstag, 19. Januar 2012, 16:41
Gehen dem Aly langsam die provokativen Themen aus?
Es scheint, dass er jetzt schon gezwungen ist, mit 1933 und 1968 zwei etwas abgegriffene Signalreize miteinander zu kombinieren, um noch irgendeinen Provokationswert aus ihnen zu ziehen.