Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 47
Fulvia


Der gelehrte Afrikaner, der die Charakterschilderung Selims irgendwo versprochen hatte, läßt sich einfallen, sie hier zu entwerfen. Ich ehre die Werke des Altertums zu sehr, um zu behaupten, daß dieser Entwurf anderswo schicklicher hätte angebracht werden können. »Es gibt,« sagt er, »gewisse Leute, denen ihr Verdienst jede Tür eröffnet; die durch die Anmut ihrer Gestalt und durch Lebhaftigkeit ihres Geistes in ihrer Jugend die Lieblinge vieler Frauen sind; und deren Alter geehrt wird, weil sie durch die Kunst, ihre Pflicht mit ihrem Vergnügen zu vereinbaren, ihr mittleres Alter durch dem Vaterlande geleistete Dienste verschönten. Mit einem Worte: es gibt Leute, die zu jeder Zeit die Freude der Gesellschaft sind, und Selim gehörte zu ihnen. Er war freilich schon sechzig Jahre alt und hatte die Bahn des Vergnügens früh betreten, aber eine robuste Gesundheit und Schonung bewahrten ihn vor Hinfälligkeit. Edles Ansehen, ungezwungener Anstand, verführerische Sprache, große, auf lange Erfahrung gegründete Weltkenntnis und die Gewohnheit, mit Frauenzimmern umzugehen, ließen ihn bei Hofe für einen Mann gelten, dem jeder gern geglichen hätte, dem man aber nicht erfolgreich nachahmen könnte, weil man auch die Talente und den Geist von der Natur erhalten haben müsse, wodurch er sich auszeichnete.«
»Jetzt frag' ich,« fährt der gelehrte Afrikaner fort, »ob dieser Mann recht hatte, sich über seine Geliebte zu beunruhigen und seine Nacht zu verbringen, als ob er seinen Verstand verloren hätte? Denn es ist Tatsache, daß er, je mehr er Fulvia liebte, desto mehr fürchtete, sie untreu zu finden. ›In welches Labyrinth hab' ich mich führen lassen?‹ sprach er zu sich selbst, ›und warum?‹ Was hilft es mir, daß die Favorite ein Schloß gewinnt? und in welche Lage stürze ich mich, wenn sie es verliert? Aber warum sollte sie es verlieren? Bin ich nicht Fulvias Zärtlichkeit sicher? Ach! ich besitze sie ganz, und spricht ihr Kleinod, so ist es nur von mir! Aber wenn es zum Verräter würde? Nein, nein, das hätt' ich schon früher geahnt; ich würde Unregelmäßigkeiten bemerkt haben; man hätte sich in fünf Jahren doch einmal vergessen. Die Prüfung bleibt freilich immer gefährlich; doch ist es nicht mehr Zeit, zurückzutreten. Ich habe den Becher an meine Lippen gesetzt, ich muß ihn leeren, sollte ich auch dabei den ganzen Trank verschütten. Vielleicht ist mir auch das Orakel günstig. Aber, ach, was darf ich erwarten? Warum sollten andere eine Tugend vergeblich angegriffen haben, die ich besiegte? Vergib, teure Fulvia, ich beleidige dich durch diesen Argwohn und ich vergesse, was es mich kostete, dich zu über winden. Mir leuchtet ein Strahl von Hoffnung, ich schmeichle mir, das Kleinod wird hartnäckig stumm bleiben!«
Selim war in dieser Gemütsbewegung, als man ihm von seiten des Großherrn ein Briefchen überreichte, worauf nur diese Worte standen: »Seien Sie heute abend auf den Schlag halb zwölf am verabredeten Orte!« Selim nahm die Feder und schrieb zitternd: »Fürst, ich werde gehorchen!«
Selim brachte den übrigen Tag wie die vergangene Nacht schwankend zwischen Furcht und Hoffnung zu. Nichts ist so gewiß, als daß die Liebhaber Ahnungen haben. Ist ihre Geliebte ungetreu, so ergreift sie ein gewisser Schauder, ungefähr wie die Tiere, wenn schlechtes Wetter eintritt. Der argwöhnische Liebhaber gleicht einem Kater, dem bei Nebelluft die Ohren jucken. Die Tiere und die Liebhaber haben auch das miteinander gemein, daß sich diese Ahnung bei Haustieren verliert und beim Liebhaber abstumpft, wenn er Ehemann wird.
Die Stunden schienen Selim sehr langsam fortzuschleichen, er sah hundertmal nach der Uhr, endlich kam der entscheidende Augenblick, und der Hofmann begab sich zu seiner Geliebten. Es war spät, ihn aber ließ man zu jeder Stunde vor, und so ward ihm Fulvias Gemach geöffnet. »Ich erwartete Sie nicht mehr,« sprach sie zu ihm, »und mußte mich mit Kopfschmerzen niederlegen, die ich meiner Ungeduld über Sie zu danken habe.« »Gnädige Frau,« antwortete Selim, »Pflichten des Standes und sogar Geschäfte haben mich bis jetzt an den Großherrn gleichsam gefesselt und mir, seit ich Sie nicht mehr sah, keinen Augenblick für mich gelassen.« »Darüber,« erwiderte Fulvia, »hab' ich vieles ausgestanden. Wissen Sie, daß ich in zwei langen Tagen nichts von Ihnen gewahr ward?« »Es ist Ihnen ja bekannt,« erwiderte Selim, »wozu mein Rang mich verpflichtet, wie sicher uns auch die Gunst der Großen scheinen mag ...« »Wie das?« unterbrach ihn Fulvia, »ist der Sultan kühl gegen Sie geworden? Sollte er Ihre Dienste vergessen haben? Sie antworten mir nicht, Selim? Sie sind zerstreut? O wenn Sie mich lieben, was liegt Ihnen an der Gunst oder Ungunst des Fürsten? Nicht in seinen Augen, sondern in den meinen liegt ja Ihr Glück, und in meinen Armen sollen Sie es suchen.«
Selim hörte seiner Geliebten aufmerksam zu, beobachtete ihr Gesicht und erforschte in ihren Bewegungen jenen Ausdruck von Wahrheit, der nicht betrügt und dem es unmöglich ist, zu heucheln. Unmöglich nämlich für uns Männer. Denn Fulvia heuchelte so vortrefflich, daß Selim anfing, sich Vorwürfe darüber zu machen, wie er sie verkannt habe. Da trat Mangogul herein. Fulvia schwieg sogleich, Selim seufzte, und das Kleinod sprach: »Meine gnädige Frau mag zu allen Pagoden von Congo wallfahrten, sie wird nie Kinder bekommen, und ich, die ich ihr Kleinod bin, weiß auch sehr wohl warum.«
Bei diesem Eingange ward Selim totenblaß. Er wollte aufstehen, aber seine zitternden Knie versagten ihm den Dienst, und er fiel auf seinen Lehnstuhl zurück. Der Sultan näherte sich ihm unsichtbar und sagte ihm ins Ohr: »Haben Sie genug?« »Ach, gnädiger Herr,« rief Selim betrübt, »warum bin ich dem Rat der Sultanin und der Ahnung meines Herzens nicht gefolgt? Mein Glück verschwindet. Ich hab' alles verloren. Bleibt ihr Kleinod jetzt stumm, so sterb ich, spricht es, so bin ich tot. Doch es spreche nur. Ich mache mich auf eine schreckliche Enthüllung gefaßt, aber ich fürchte sie weniger, als ich den Zustand hasse, worin ich mich gegenwärtig befinde.«
Unterdessen war Fulvias erste Bewegung gewesen, die Hand auf ihr Kleinod zu legen und ihm den Mund zuzuhalten. Was es bis dahin gesprochen, vertrug eine vorteilhafte Deutung, aber sie scheute, was noch kommen würde. Schon war sie seines Stillschweigens wegen etwas beruhigt, als der Sultan, durch Selim aufgefordert, seinen Ring drehte. Fulvia war daher genötigt, ihre Finger wegzunehmen und das Kleinod fuhr fort:
»Ich kann nicht empfangen, man ermüdet mich zu sehr. Der Besuch so vieler heiligen Leute vereitelt alle meine Absichten, und die gnädige Frau bekommt keine Kinder. Würde ich nur von Selim gefeiert, so möcht' ich vielleicht fruchtbar werden, aber ich bin ja wie eine Galeerensklavin. Heute ist es der, morgen jener, und immer wird gerudert. Welchen Mann Fulvia zuletzt sieht, von dem glaubt sie immer, der Himmel habe ihn ausersehen, ihr Geschlecht zu verewigen. Vor dieser Laune ist niemand sicher. Wie beschwerlich ist es doch, Kleinod bei einer adligen Dame zu sein, die keine Erben hat? Seit zehn Jahren bin ich Leuten preisgegeben, die nicht wert waren, die Augen zu mir emporzuheben.«
Jetzt glaubte Mangogul, Selim habe genug gehört, um von seiner Fassungslosigkeit geheilt zu werden, er schenkte ihm das übrige, drehte seinen Ring zurück, ging fort und überließ Fulvia den Vorwürfen ihres Liebhabers.
Anfangs blieb der unglückliche Selim wie versteinert; bald aber gab ihm die Wut Kraft und Sprache wieder. Er warf einen verächtlichen Blick auf die Ungetreue und sagte: »Undankbare! Treulose! liebte ich Sie noch, so würde ich mich rächen, aber Sie sind meines Zornes ebenso unwürdig, als Sie es meinen Zärtlichkeiten waren. Pfui über Sie, daß Sie einen Mann wie mich, einen Selim, in einen Topf werfen mit solchen Knechten!« »Wahrhaftig,« unterbrach ihn trotzig Fulvia im Tone einer entlarvten Dirne, »es steht Ihnen fein, von einer Kleinigkeit so viel Aufhebens zu machen! Sie sollten mir lieber Dank wissen, daß ich Ihnen Dinge verhehlt habe, deren Kunde Sie in Verzweiflung stürzen konnte. Sie ereifern sich und werden wütend, als ob ich Sie beleidigt hätte. Mit welchem Rechte, mein Herr, verdienen Sie denn, Seton, Rikel, Molli, Tachmas, den liebenswürdigsten Kavalieren des Hofes, vorgezogen zu werden, denen man sich nicht einmal die Mühe gibt, zu verbergen, daß man Seitensprünge macht? Ein Mann wie Sie, Selim, ist ein erschöpfter, hinfälliger Mann und seit Ewigkeit außerstande, eine hübsche Frau zu fesseln, wenn sie nicht sehr einfältig ist. Gestehen Sie also, daß Ihr Hochmut übel angebracht und Ihr Zorn anmaßend ist. Sind Sie übrigens mißvergnügt, so überlassen Sie Ihre Stelle andern, die sie besser ausfüllen werden.« »Das tu ich von ganzem Herzen,« versetzte Selim voller Empörung und verließ dieses Weib, fest entschlossen, es niemals wiederzusehen.
Er kehrte in seine Wohnung zurück und schloß sich einige Tage dort ein, weniger verdrießlich im Grunde über seinen Verlust, als über seinen langen Irrtum. Nicht sein Herz litt, sondern seine Eitelkeit. Er scheute die Vorwürfe der Favorite und die Spötteleien des Sultans, darum vermied er beide.
Fast war er entschlossen, dem Hofe zu entsagen, sich in einer Einsamkeit zu vergraben und als Philosoph das Leben zu beschließen, dessen größten Teil er im Gewande des Hofmanns verloren hatte. Aber Mirzoza erriet seine Gedanken, unternahm es, ihn zu trösten, ließ ihn in den Harem rufen und sprach zu ihm: »Sie verlassen mich also, Freund Selim? Sie bestrafen nicht Fulvia für ihre Untreue, Sie bestrafen mich. Uns allen tut Ihr Abenteuer leid, wir geben zu, es ist ärgerlich, aber liegt Ihnen irgend etwas an der Gnade des Sultans und an meiner Freundschaft, so fahren Sie fort, unsere Gesellschaft zu beleben, und vergessen diese Fulvia, die eines Mannes wie Sie niemals würdig war.«
»Gnädige Frau,« antwortete Selim, »mein Alter erinnert mich, daß es Zeit ist, mich zurückzuziehen. Ich habe genug von der Welt gesehen. Vor vier Tagen hätt' ich mich noch rühmen können, sie zu kennen, aber der Streich Fulvias verwirrt mich. Alle Frauenzimmer sind unerklärlich, alle würd' ich hassen, gehörten Sie nicht auch zu einem Geschlecht, von dem Sie jeglichen Reiz besitzen. Gebe Brahma, daß Sie nie seine Fehler annehmen! Leben Sie wohl, gnädige Frau, ich will mich in der Einsamkeit mit nützlichen Betrachtungen beschäftigen. Das Andenken der Gnade, mit welcher Sie und mein Herr mich beehrten, folgt mir dahin, und wenn mein Herz noch einen Wunsch hegt, so wird er Ihrem Glück und seiner Ehre gelten.«
»Selim,« antwortete die Favorite, »Sie machen Ihren Unwillen zum Ratgeber. Sie fürchten, sich lächerlich zu machen. Dem sind Sie weit mehr ausgesetzt, wenn Sie den Hof verlassen, als wenn Sie dableiben. Haben Sie so viel Philosophie, wie Sie wollen, aber es ist jetzt nicht die Zeit, Gebrauch davon zu machen: man wird in Ihrer Entfernung von der Welt nur Ärger und Verdruß sehen. Sie sind nicht gemacht, sich in eine Wüste zu verbannen, und der Sultan ...«
Mangoguls Ankunft unterbrach die Favorite, sie legte ihm Selims Absicht vor. »Er ist nicht gescheit,« sagte der Fürst. »Hat ihm denn das Betragen der elenden Fulvia ganz den Kopf verrückt?« Dann wandte er sich gegen Selim: »Daraus wird nichts, guter Freund! Sie bleiben, ich bedarf Ihres Rats und unsere Freundin Ihrer Gesellschaft. Das Wohl meines Reichs und Mirzozas Zufriedenheit verlangen dieses Opfer von Ihnen. Sie werden es nicht abschlagen.«
Die Gesinnungen Mangoguls und der Favorite rührten Selim, er verbeugte sich ehrfurchtsvoll, blieb am Hofe und ward geliebt, wertgehalten, gesucht und ausgezeichnet durch die Gunst, die der Sultan und Mirzoza ihm erzeigten.


Man sollte über die Tugend der Angebeteten nicht zu viel wissen wollen.

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