Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 42
g. | Mittwoch, 5. März 2014, 06:02 | Themenbereich: 'Aufklärung'
Selim. Selim. SelimPoppen durch die Fürstenhöfe Europas (nebst der Begegnung mit einer Professionellen in Paris)
Mangogul dachte nur daran, wie er sein Vergnügen abwechseln und die Versuche seines Ringes vervielfachen könnte. Er hatte die merkwürdigsten Kleinode seines Hofes ausgefragt und war nunmehr neugierig, einige Kleinode aus der Stadt zu vernehmen. Was er aber durch sie erfahren dürfte, davon hatte er schon im voraus keine besondere Meinung, und hätte wohl gewünscht, sie nach seiner Bequemlichkeit vorladen zu können, ohne sich die Mühe zu geben, sie aufzusuchen.
Wie sollte er sie aber zusammentrommeln? Darüber war er in Verlegenheit. »Das ist wohl der Mühe wert, nachzusinnen,« sagte Mirzoza. »Geben Sie mir eine Freiredoute, gnädigster Herr, und ich verspreche Ihnen noch diesen Abend mehr Redner von dem Schlage, als Sie werden anhören mögen.«
»Freude meines Herzens, Sie haben recht,« antwortete Mangogul. »Ihr Vorschlag ist um so besser, weil er uns sicherlich nur solche verschafft, die mir in den Kram passen.« Alsbald erhalten der Kiflar-Ugasi und der Schatzmeister Befehl, das Fest anzuordnen und nur viertausend Billette auszugeben. Wahrscheinlich verstand man dort besser als anderswo, wie vielen Raum viertausend Menschen einnehmen. Bis die Stunde der Redoute herankam, sprachen Mangogul, die Favorite und Selim über Neuigkeiten. »Wissen Ihro Gnaden,« fragte Selim die Favorite, »daß der arme Codindo gestorben ist?« »Das erste Wort, was ich höre! Woran ist er gestorben?« sagte die Favorite. »Leider, gnädige Frau,« antwortete Selim, »ist er ein Opfer der anziehenden Kraft geworden. Auf dieses System war er von Jugend an versessen, und auf seine alten Tage wurde er darüber verrückt.« »Wie das?« fragte die Favorite.
»Halley und Circino, zwei berühmte Sternkundige von Monoemugi, hatten berechnet, ein gewisser Komet, der gegen das Ende der Regierung Kanoglus großes Aufsehen machte, müsse vorgestern wieder erscheinen. Codindo befürchtete, dieser Komet möchte seinen Schritt beschleunigen und ihm die Ehre rauben, seiner zuerst gewahr zu werden. Daher entschloß er sich, die Nacht auf der Sternwarte zuzubringen, und sah noch gestern morgen um neun Uhr unverwandt durch das Fernrohr.«
Sein Sohn befürchtete, eine so lange Sitzung könne dem Vater nachteilig werden, näherte sich ihm um acht Uhr und zupfte ihn am Ärmel: »Vater! Vater!« Keine Antwort. »Vater! Vater!« wiederholte der junge Codindo. »Er muß gleich kommen,« antwortete Codindo, »er wird gleich kommen. Er soll mir wahrhaftig nicht entgehn.« – »Das ist unmöglich, Vater, es nebelt viel zu stark.« – »Ich will ihn sehn und ich muß ihn sehn.«
Diese Antworten überzeugten den jungen Menschen, daß es bei seinem Vater rapple. Er rief um Hülfe, man kam. Er ließ Tarfadi aufsuchen, man fand ihn bei mir, es ist mein Arzt. »Geschwind, geschwind, Herr Doktor, verlieren Sie keine Zeit; der alte Herr Codindo.« – »Nun, Johann? was fehlt deinem Herrn?« – »Er ist närrisch geworden.« – »Dein Herr verrückt?« – »Ach! leider, es ist gewiß. Er ruft immer, er will Tiere sehen, es müßten welche kommen! Der Herr Apotheker ist schon da, und man erwartet Sie ebenfalls. Kommen Sie schnell!« – »Tollheit!« sagte Farfadi, und suchte seinen Doktorhut. »Tollheit, ein schrecklicher Anfall von Tollheit!« Dann zum Bedienten: »Johann,« fragte er, »sieht dein Herr nicht auch Schmetterlinge? Zupft er nicht kleine Flocken aus seiner Bettdecke?« »Ach nein, Herr Doktor,« antwortete Johann. »Mein armer Herr sitzt oben auf der Sternwarte. Seine Frau, seine Töchter und sein Sohn halten ihn bei allen vieren. Kommen Sie schnell; Ihren Doktorhut können Sie morgen suchen.« Codindos Krankheit schien mir zum Lachen. Farfadi stieg in meinen Wagen, und wir fuhren zusammen zur Sternwarte. Unten an der Treppe hörten wir schon Codindo wie besessen rufen: »Ich will den Kometen sehn! Ich muß ihn sehn. Laßt mich ungeschoren!«
Wahrscheinlich hatte seine Familie, da sie ihn nicht bereden konnte, herabzusteigen, sein Bett oben auf den Turm gebracht, denn wir fanden ihn im Bette. Man hatte den nächsten Apotheker herbeigeholt und den Brahminen des Kirchensprengels, der ihm, als wir kamen, in die Ohren rief: »Bruder, lieber Bruder, bedenken Sie, es geht ums Seelenheil! Sie können um diese Stunde mit gutem Gewissen keinen Kometen erwarten. Sie kommen sonst in die Hölle.« »Das ist meine Sache,« sagte Codindo. »Was werden Sie zu Brahma sagen, vor dem Sie nun bald erscheinen müssen?« fing der Brahmine wieder an. »Herr Pfarrer,« versetzte Codindo und sah mit keinem Auge vom Fernrohr weg, »ich werde ihm sagen, daß es Ihr Amt ist, mich für mein Geld zu ermahnen und das des Herrn Apothekers, mir sein warmes Wasser anzupreisen; daß mein Herr Arzt seine Schuldigkeit tut, wenn er mir den Puls fühlt und nichts davon versteht, und daß ich meine Pflicht tue, wenn ich den Kometen erwarte.« Trotz aller Anstrengung brachte man kein anders Wort aus ihm. Er fuhr heldenmütig fort zu beobachten und starb in der Regenrinne, die linke Hand auf das linke Auge, die rechte am Fernrohr haltend, das rechte Auge auf das Okularglas gerichtet. Um ihn standen sein Sohn, der ihm zurief, er habe sich verrechnet; sein Apotheker, der ihm vorschlug, etwas einzunehmen, sein Arzt, der den Kopf schüttelte und behauptete, es sei nichts mehr zu machen; und sein Beichtvater, der ihn aufforderte, sich zu bekehren und seine Seele Brahma zu befehlen.
»Das heiße auf dem Bette der Ehren sterben,« sagte Mangogul. »Mag der arme Codindo in Frieden ruhn,« sprach Mirzoza, »und reden wir von etwas Lustigerem.« Darauf wandte sie sich gegen Selim: »Sie haben Ihre besten Jahre hier zugebracht, Sie liebten die Frauenzimmer, Sie lebten an einem Hofe, wo das Vergnügen zu Hause ist. Mit Ihrem Witz, Ihrem Verdienst und dem guten Ansehn, das Ihnen zuteil ward, ist es nicht zu verwundern, daß die Kleinode Ihr Lob gesungen haben: ich vermute sogar, daß sie nicht alles angegeben haben, was sie von ihnen wußten. Nun verlang' ich zwar von Ihnen darüber keinen Nachtrag: Sie könnten Ihre guten Ursachen haben, dies Ansinnen von sich abzulehnen. Aber nach allen Abenteuern, die diese Geschöpfe auf Ihre Rechnung schreiben, müssen Sie ein Kenner des weiblichen Geschlechts sein: das können Sie doch ohne Zweifel zugeben?«
»Diese Schmeichelei, gnädige Frau,« antwortete Selim, »würde meiner Eigenliebe sehr gefallen haben, da ich zwanzig Jahr alt war. Aber jetzt besitz' ich Erfahrung und halte keine Bemerkung für so sicher, als die: je mehr man dies Handwerk treibt, je dunkler wird's einem. Ich ein Weiberkenner? Bloß studiert hab ich sie.« »Gut also, was halten Sie von ihnen?« fragte die Favorite. »Ich denke, gnädige Frau, daß alle Weiber meine Achtung verdienen, ihre Kleinode mögen sagen was sie wollen.«
»Wahrhaftig, mein Lieber,« sagte Mangogul, »Sie verdienten selbst ein Kleinod zu sein.« »Sie hätten keinen Maulkorb nötig. Selim,« setzte die Favorite hinzu, »geben Sie den satyrischen Ton auf und sagen Sie uns die Wahrheit.« »Gnädige Frau,« antwortete der Hofmann, »in der Schilderung, die ich entwerfen soll, möchten unangenehme Züge vorkommen: erlassen Sie mir die Notwendigkeit, ein Geschlecht zu beleidigen, das mich immer gut behandelt hat und dem ich schon deswegen Ehrfurcht schuldig bin.« – »Ehrfurcht hin, Ehrfurcht her,« unterbrach ihn Mirzoza, »nichts ist so scharf als die sanftmütigen Männer, wenn sie's darauf anlegen!« Sie bildete sich nämlich ein, Selim sei aus Achtung für sie zurückhaltend, und fuhr fort: »Lassen Sie sich durch meine Gegenwart nicht abschrecken; wir wollen uns hier ja unterhalten. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich will alles auf mich deuten, was Sie verbindliches von meinem Geschlecht sagen werden, und das übrige andern Frauenzimmern überlassen. Sie haben also die Frauen gut studiert? Schön, erzählen Sie die Geschichte Ihrer Studien; sie muß glänzend sein, nach dem bekannten Erfolg zu urteilen, und man darf wohl annehmen, daß Sie nicht durch das, was uns davon unbekannt blieb, Lügen gestraft werden.« Der alte Höfling gab ihrem Drängen nach und begann folgendermaßen:
»Die Kleinode haben viel von mir gesprochen, das gesteh' ich. Aber sie haben nicht alles gesagt. Die meine Geschichte vollständig machen könnten, leben nicht mehr, oder leben nicht in unserm Himmelsstrich, und die sie angefangen haben, erwähnten ihrer nur obenhin. Bis jetzt hab' ich das unverbrüchliche Geheimnis beobachtet, das ich ihnen versprach, obwohl ich eher zum plaudern gemacht war als sie: da sie aber das Schweigen gebrochen haben, so scheint es, sie entbinden auch mich der Verschwiegenheit.
Geboren mit feurigem Temperament, wußte ich kaum, was ein schönes Weib sei, als ich es liebte. Meine Erzieherinnen verabscheut' ich freilich, dagegen ließ ich mir meiner Mutter Kammermädchen wohl gefallen. Sie waren mehrenteils jung und hübsch. Sie unterhielten, kleideten und entkleideten sich in meiner Gegenwart ohne Scheu, forderten mich sogar auf, mir Freiheiten bei ihnen herauszunehmen und bei meiner natürlichen Anlage zur Galanterie ließ ich mir das nicht zweimal sagen. Diese Kenntnisse begleiteten mich in meinem fünften oder sechsten Jahr unter die Hand männlicher Erzieher, und Gott weiß, wie sehr sie sich vermehrten, als man mir die alten Dichter gab und meine Lehrer einige Stellen daraus verdolmetschten, deren Sinn sie vielleicht selber nicht faßten. Meines Vaters Edelknaben lehrten mich einige Schulstückchen und borgten mir die Aloysia zum Lesen, was meinen Trieb nach Vervollkommnung noch vermehrte. Ich war damals vierzehn Jahr alt.
Ich blickte um mich und suchte unter den Frauenzimmern, die in unser Haus kamen, an wen ich mich wenden sollte; aber alle schienen mir gleich geschickt, mich einer Unschuld zu entledigen, die mir lästig ward. Ein Anfang von Bekanntschaft und mehr noch der Mut, den ich in mir fühlte, eine Person von meinen Jahren anzugreifen, was ich gegen Erwachsene nicht wagte, bestimmten mich, eine meiner Muhmen zu wählen. Emilie war jung, ich auch; ich fand sie reizend und gefiel ihr; sie war nicht schwierig, ich unternehmend; ich hatte Lust zu lernen, sie war nicht minder begierig zu wissen. Wir legten uns oft sehr naive und starke Fragen vor: eines Tages hinterging sie die Wachsamkeit ihrer Erzieherinnen, wir unterrichteten uns. Ach, was für eine große Lehrmeisterin ist die Natur! Sie ließ uns bald den Genuß entdecken und wir überließen uns ihren Trieben, ohne deren Folgen einigermaßen zu ahnden. Das war nicht das Mittel ihnen vorzubeugen. Emilie bekam Übelkeiten, die sie um so weniger verbarg, als sie ihre Ursache nicht argwohnte. Die Mutter fragte sie aus, entriß ihr das Geständnis unsers Umgangs und mein Vater erfuhr davon. Der gab mir einen Verweis deswegen, wobei er aussah, als ob es ihm nicht leid täte, und alsbald ward ausgemacht, daß ich reisen sollte. Mich begleitete ein Hofmeister, mit dem Auftrage, meine Aufführung sorgfältig zu beobachten, ohne sie einzuschränken: und fünf Monate hernach erfuhr ich durch die Zeitung, Emilie sei an den Blattern gestorben, und durch einen Brief meines Vaters, die Zärtlichkeit, die sie für mich empfunden, koste ihr das Leben. Der erste Sprößling meiner Liebe dient jetzt mit Ehren im Heere Ihrer Hoheit: mein Einfluß hat ihn immer unterstützt und noch kennt er mich nur als seinen Gönner.
Die Nachricht von seiner Geburt und seiner Mutter Tod erhielt ich in Tunis. Sie erschütterte mich heftig, und ich glaube, ich wäre darüber nicht zu trösten gewesen, hätt' ich nicht gerade eine Liebschaft mit der Frau eines Korsaren gehabt, die mir keine Zeit ließ zu verzweifeln. Die Tuniserin war unerschrocken ich verrückt. Alle Tage warf sie mir die Strickleiter zu, worauf ich aus unsrer Wohnung auf ihren Altan stieg und von da in ein Kabinett, wo sie mich vervollkommnete, denn bei Emilien blieb ich im ersten Entwurf. Ihr Mann kehrte gerade von einer weiten Reise zurück, als mein Hofmeister, der seine Instruktion befolgte, in mich drang, nach Europa zu gehen. Ich setzte mich auf ein Schiff, das nach Lissabon abging, aber vorher beurlaubte ich mich mehr als einmal zärtlich bei Elviren, die mir den Diamanten gab, den Sie hier sehen.
Unser Schiff hatte viel Waren an Bord, aber nach meinem Geschmack war die Frau des Kapitäns die kostbarste. Sie zählte kaum zwanzig Jahre, ihr Mann war eifersüchtig wie ein Tiger, und nicht ganz ohne Ursache. Bald verstanden wir uns untereinander. Donna Velina begriff auf einmal, daß sie mir gefiele, ich, daß ich ihr nicht gleichgültig, ihr Gemahl, daß er uns im Wege sei. Der Seemann entschloß sich, sie niemals aus den Augen zu lassen, bis wir im Hafen von Lissabon ankommen würden. Ich las in den Augen seiner teuren Gattin, wie leid es ihr sei, so von ihrem Manne belagert zu werden. Die meinigen sagten ihr eben das, und der Ehemann erriet uns ohne Mühe. Zwei Tage dursteten wir unaussprechlich nach Genuß und wären sicherlich vor Durst verschmachtet, hätte sich der Himmel nicht ins Spiel gemischt. Aber der steht immer den Bedrängten bei. Kaum waren wir durch die Meerenge von Gibraltar gesegelt, als ein wütender Sturm sich erhob. Wäre es hier nicht um Geschichte zu thun, so würde ich nicht unterlassen, gnädige Frau, die Winde um Ihre Ohren pfeifen und den Donner über Ihr Haupt rollen zu lassen, den Himmel mit Blitzen zu entzünden, die Wogen bis an die Wolken zu schleudern und Ihnen den fürchterlichsten Sturm zu schildern, der Sie jemals in einem Roman betroffen hat. Jetzt begnüg' ich mich, Ihnen zu sagen, daß der Kapitän durch das Geschrei der Matrosen gezwungen ward, seine Kajüte zu verlassen und sich einer Gefahr auszusetzen, um der andern zu entgehen. Mein Hofmeister begleitete ihn, und ich stürzte mich ohne Bedenken in die Arme der schönen Portugiesin, vergaß gänzlich Meer, Sturm, Ungewitter und das zerbrechliche Schiff und überließ mich rückhaltlos dem treulosen Element. Unsre Fahrt war schnell, und Ihro Gnaden ermessen leicht, daß man in wenig Stunden weit kommt, wenn der Wind in die Segel stößt. Wir stiegen in Cadix ans Land, wo ich meiner Sennora versprach, sie zu Lissabon wieder aufzusuchen, wenn es mir mein Mentor erlauben würde, dessen Absicht gerade nach Madrid ging.
Die Spanierinnen sind viel eingezogner und verliebter als unsre Damen. Dort pflegt man der Liebe durch Botschafterinnen, die den Auftrag haben, die Fremden auszuspähen, ihnen Anträge zu machen, sie hin- und zurückbegleiten; und die Damen nehmen die Mühe auf sich, sie zu beglücken. Der Zufall fügte es, daß ich dieser Umstände nicht bedurfte. Eine große Revolution hatte einen französischen Prinzen auf den Thron dieses Landes versetzt; seine Ankunft und seine Krönung veranlaßten Feierlichkeiten am Hofe, bei denen ich erschien. Man sprach zu mir auf einer Redoute, man schlug mir eine Zusammenkunft für den folgenden Tag vor; ich nahm sie an und begab mich in ein abgelegenes Haus, wo ich einen verlarvten Menschen fand, bis an die Nase in seinen Mantel gehüllt, der mir ein Briefchen zusteckte, wodurch Donna Oropesa unsre Unterhaltung auf die nämliche Stunde des morgenden Tages verschob. Ich fand mich wieder ein und ward in ein prächtig möblirtes, von Wachskerzen erleuchtetes Zimmer geführt. Meine Göttin ließ nicht auf sich warten. Sie folgte mir auf dem Fuß und warf sich in meine Arme, ohne ein Wort zu sprechen oder ihre Larve abzulegen. War sie häßlich? war sie schön? Das wußte ich nicht. Nur auf dem Sofa, wohin sie mich führte, ward ich gewahr, daß sie jung und gut gebaut sei und das Vergnügen liebte. Als sie meiner Lobeserhebungen genug hatte, entlarvte sie sich und zeigte mir das Original des Gemäldes, das Sie auf dieser Dose sehn.«
Selim zog, indem er dies sagte, eine trefflich gearbeitete goldne Dose, mit Edelsteinen besetzt, hervor. »Das ist ein schönes Geschenk,« sagte Mangogul. »Das Gemälde darauf ist mir das schätzbarste,« sagte die Favorite. »Was für Augen! Welch ein Mund! Welch ein Busen! Ist dabei nichts geschmeichelt?« »So wenig, gnädige Frau,« antwortete Selim, »daß mich Oropesa vielleicht in Madrid festgehalten hätte, wenn ihr Gemahl, der unsern Umgang erfuhr, ihn nicht durch seine Drohungen unterbrach. Oropesa war mir lieb, das Leben war mir lieber. Auch schien mein Hofmeister nicht geneigt, mich den Dolchstichen des Mannes auszusetzen, damit ich seine Frau einige Monate länger genösse. So schrieb ich also der schönen Spanierin ein rührendes Lebewohl, das ich einem Roman ihres Landes entlehnte, und reiste nach Frankreich.«
Der Monarch, der damals Frankreich beherrschte, war Großvater des Königs von Spanien, und sein Hof galt mit Recht für den prächtigsten, gesittetsten und liebeseligsten von Europa. Ich erschien wie ein Naturphänomen. »Ein junger Herr aus Congo?« sagte eine schöne Marquise. »Das muß doch sehr spaßhaft sein. Da gibt's ganz andre Männer als bei uns. Congo liegt, denk' ich, nicht weit von Marokko.« Man veranstaltete meinetwegen Gesellschaften. Sprach ich auch nur ein ganz wenig vernünftiges Wort, so fand man mich aufgeklärt und wunderbar frei. Man pries mich um so lauter, weil man mir anfangs die Ehre erzeigt hatte, zu argwöhnen, ich habe keinen Menschenverstand. »Er ist allerliebst!« rief eine andre Hofdame mit Lebhaftigkeit. »Es ist ein wahrer Mord, daß ein so hübsch gebildeter junger Mann in ein Land zurückkehren soll, wo die Frauenzimmer von Männern bewacht werden, die keine Männer sind!« »Ist das wohl wahr, mein Herr? Man sagt, sie haben garnichts. Das muß einem Manne übel stehn.« »Wir müssen sehn,« sagte eine andre, »wie wir den Jungen hier unter bringen. Er ist ja von gutem Hause. Wenn alles fehlschlägt, wird er Maltheser-Ritter. Ich wills auf mich nehmen, ihn zu versorgen; und die Herzogin Viktoria, meine Freundin von jeher, kann im Notfall bei dem König selbst für ihn sprechen.«
Bald hatt' ich unverdächtige Beweise ihres Wohlwollens. Ich setzte die Marquise in den Stand, das Verdienst der Einwohner von Congo und Marokko zu beurteilen: »aber ich erfuhr, der Posten, den die Herzogin und ihre Freundin mir versprochen hatten, sei schwer auszufüllen, und gab ihn auf. Hier lernt' ich einer hohen Leidenschaft vier und zwanzig Stunden nachhängen. Sechs Monate lang trieb ich mich wie in einem Wirbel umher, wo eine Liebschaft anfing, ehe die andre ein Ende nahm, wo man nichts suchte als Genuß. Verzögerte sich der, oder war er erlangt, so flog man neuen Freuden zu.«
»Was sagen Sie, Selim?« antwortete die Favoriti. »Anstand ist also in diesem Lande unbekannt?« »Vergeben Sie mir, gnädige Frau,« antwortete der alte Höfling. »Man führt kein Wort so häufig im Munde. Aber Sklavinnen der Sache sind die Französinnen so wenig als ihre Nachbarinnen.« »Was für Nachbarinnen?« fragte Mirzoza. »Die Engländerinnen,« versetzte Selim, »kalt und spröde dem Anschein nach, aber heftig, wollüstig und rachsüchtig; minder witzig, aber vernünftiger als die Französinnen. Diese lieben das Geschwätz der Empfindungen, jene ziehen den Ausdruck des Genusses vor. Doch liebt man zu London wie zu Paris, verläßt sich und verbindet sich aufs neue, um sich aufs neue zu verlassen. Ich vertauschte die Tochter eines Lord Bishop – das ist eine Art verheirateter Brahminen – gegen die Frau eines Ritters Baronet. Unterdes er sich im Parlament erhitzte, um die Sache seines Volkes gegen die Eingriffe des Hofes zu verteidigen, hatten seine Gattin und ich zu Hause ganz andre Debatten. Aber das Parlament endigte seine Sitzungen, und Mylady war gezwungen, ihrem Baronet auf seinen Landsitz zu folgen. Da verfiel ich auf die Gemahlin eines Obersten, dessen Regiment in einem Seehafen in Garnison lag. Endlich gehört' ich der Frau des Lordmajors. Ach, welch eine Frau! Nie hätt' ich Congo wieder gesehen, wenn mich nicht die Klugheit meines Hofmeisters, der mich hinschwinden sah, dieser Galeere entriß. Er erdichtete Briefe meiner Familie, die meine Rückkunft sehnlich verlangte, und wir schifften uns nach Holland ein, von wannen wir durch Deutschland gehn und uns nach Italien begeben wollten, wo es uns nicht an Gelegenheit fehlen konnte, nach Afrika zurückzukehren.«
Wir sahen Holland bloß auf der Extrapost und hielten uns in Deutschland nicht viel länger auf. Alle Frauenzimmer von Stande glichen dort wichtigen Festungen, die man förmlich belagern muß. Sie ergeben sich endlich, aber man muß sich ihnen mit großer Vorsicht nähern; und es gibt so viele Wenn und Aber als Bedingungen der Übergabe, daß mir diese Eroberungen bald Langeweile machten.
Nie werd' ich die Worte einer Deutschen von hohem Range vergessen, als sie im Begriff war, mir einzuräumen, was sie vielen andern nicht abgeschlagen hatte: »Ach!« rief sie mit Thränen, »was würde der große Alziki, mein Vater, sagen, wenn er wüßte, daß ich mich einem unbedeutenden Congoer überlasse!« »Er soll nichts sagen, gnädige Frau,« versetzt' ich. »So viel Größe setzt mich in Erstaunen, und ich ziehe mich ehrfurchtsvoll zurück.« Daran tat ich sehr weislich; ich möchte ein Andenken davongetragen haben, wenn ich Ihre Hoheit mit meiner Niedrigkeit bloßgestellt hätte. Brama, der unser gesundes Land in seine Obhut nimmt, war im Geiste mit mir in dieser mißlichen Stunde.
Die Italienerinnen, mit denen wir hernach zu tun hatten, sind nicht so hochnäsig. Sie unterrichteten mich in den verschiedenen Arten des Vergnügens. Es liegt oft in diesen verfeinerten Genüssen viel Launenhaftigkeit und Seltsamkeit; aber, meine Damen, Sie werden mir verzeihen, das muß zuweilen sein, um Ihnen zu gefallen. Ich habe aus Florenz, Venedig und Rom verschiedene Freudenrezepte mitgebracht, die mein barbarisches Vaterland vor meiner Rückkunft nicht kannte. Der Ruhm dieser Neuerung gebührt den Italienerinnen.
Ungefähr vier Jahre hatte ich in Europa zugebracht und kehrte ausgebildet, wie Sie sehen, und mit den seltenen italienischen Entdeckungen bereichert, die ich ohne Säumen bekannt machte, durch Ägypten in unser Reich zurück.
Hier, sagte der gelehrte Afrikaner, bemerkte Selim, daß die abgedroschenen Bemerkungen, die er der Favorite über seine europäischen Reisen und über den Charakter der Weiber der von ihm bereisten Länder auskramte, den Sultan in tiefen Schlummer gewiegt hatten; und weil er fürchtete, ihn aufzuwecken, näherte er sich der Sultanin und fuhr mit leiserer Stimme fort:
»Gnädige Frau, müßt' ich nicht besorgen, Sie durch einen Bericht ermüdet zu haben, der vielleicht nur allzulang gewesen ist, so würd' ich Ihnen noch mein erstes Abenteuer in Paris erzählen, von dem ich nicht begreife, wie es mir vorhin entfalle konnte.«
»Tun Sie das, lieber Selim«, antwortete die Favorite. »Ich will meine Aufmerksamkeit verdoppeln und Sie, so viel an mir ist, für die des schlafenden Großherrn entschädigen.«
»Wir brachten,« fuhr Selim fort, »von Madrid Empfehlungsschreiben an einige französische Herren mit und kamen auf die Art gleich bei unsrer Ankunft in gute Gesellschaft. Es war gerade in der guten Jahreszeit, und mein Hofmeister und ich gingen des Abends gewöhnlich im Palais Royal spazieren. Da wurden wir einst dort von einigen Stutzern angeredet, die uns die hübschesten Damen nachwiesen, ihre wahre oder falsche Geschichte erzählten und sich selbst nicht dabei zuletzt erwähnten, wie Sie leicht denken können. Schon waren sehr viel Frauenzimmer im Garten, aber gegen acht Uhr bekamen sie eine ansehnliche Verstärkung. Nach der Menge ihrer Edelsteine, der Pracht ihrer Kleidung und ihrem zahlreichen Gefolge hielt ich sie wenigstens für Herzoginnen. Ich sagte meine Gedanken einem jungen Herrn aus der Gesellschaft, der mir antwortete, er merke wohl, daß ich ein Kenner sei; wenn ich aber wollte, könnte ich das Vergnügen haben, noch am nämlichen Abend mit einigen der liebenswürdigsten zusammen zu speisen. Ich nahm sein Anerbieten an; sogleich raunte er zweien oder dreien seiner Freunde etwas ins Ohr, die sich unter die Spaziergänger zerstreuten und in weniger als einer Viertelstunde zurückkamen, Rechenschaft von ihrer Unterhaltung abzulegen.«
»Meine Herren,« sagten sie, »man erwartet Sie zum Nachtessen bei der Herzogin Asteria.« Die nicht eingeladen waren, priesen laut unser Glück; man ging noch einigemal auf und ab; man trennte sich, und wir warfen uns in unsern Wagen, um dieses Glück zu genießen.
Wir hielten an einer kleinen Tür am Fuß einer engen Treppe, die wir bis in den zweiten Stock hinaufstiegen, wo ich die Zimmer geräumiger und besser möbliert fand, als sie mir jetzt vorkommen würden. Man stellte mich der Frau vom Hause vor, der ich eine sehr tiefe Verbeugung und ein so ehrfurchtsvolles Kompliment machte, daß sie beinahe die Fassung darüber verlor. Es ward aufgetragen, und man setzte mich neben eine junge reizende Person, die die Herzogin spielte, so gut sie konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, mich in sie zu verlieben; und doch passierte mir das. »Sie haben also einmal in Ihrem Leben geliebt?« fragte die Favorite. »Ja, gnädige Frau,« antwortete Selim, »wie man eben mit achtzehn Jahren liebt, mit jener außerordentlichen Ungeduld, eine angesponnene Liebschaft zu Ende zu bringen. Ich schlief die Nacht nicht, und sobald der folgende Morgen graute, entwarf ich den zärtlichsten Liebesbrief an meine schöne Unbekannte. Ich schickt' ihn fort, man antwortete und bewilligte mir ein Stelldichein. Weder der Ton der Antwort noch die Nachgiebigkeit der Dame enttäuschten mich, und ich eilte an den bestimmten Ort mit der festen Überzeugung, ich werde die Frau oder Tochter eines Premierministers besitzen. Meine Göttin erwartete mich auf einem breiten Sofa. Ich warf mich zu ihren Füßen. Ich ergriff ihre Hand, küßte sie mit lebhafter Zärtlichkeit und wünschte mir Glück zu der Gewogenheit, die sie mir bezeugte.« »Ist es auch wirklich wahr,« sagte ich, »daß Sie Selim erlauben, Sie zu lieben und es Ihnen zu sagen? Darf er, ohne Sie zu beleidigen, sich mit so süßer Hoffnung schmeicheln?«
So sprach ich und drückte einen Kuß auf ihren Busen. Da sie liegen blieb, rüstete ich mich eifrig, diesem Anfang unsrer Unterhaltung Nachdruck zu geben, aber sie hielt mich auf und sprach: »Halt, halt, guter Freund, du bist ein schöner Junge, du hast viel Witz, du sprichst wie ein Engel, aber ich brauche vier Louis.« »Was sagen Sie?« fragte ich. »Ich sage dir,« antwortete sie, »wenn du mir nicht vier Louis gibst, so ist nichts zu machen ...« »Wie, Mamsell!« rief ich mit Erstaunen aus, »Sie sind nicht mehr wert? Das lohnte sich wahrlich der Mühe, von Congo herzukommen!« Sogleich bring' ich mich wieder in Ordnung, stürze die Treppe hinunter und eile fort.
»Sie sehen, gnädige Frau, in meiner ersten Zeit hielt ich Figurantinnen für Prinzessinnen.« »Das nimmt mich sehr Wunder,« versetzte Mirzoza, »der Unterschied ist doch außerordentlich groß.« »Ich zweifle nicht daran,« erwiderte Selim, »daß Ihnen tausend Ungeschicklichkeiten entschlüpften. Aber was wollen Sie? Ein Fremder, ein junger Mensch sieht darauf nicht so genau. Man hatte mir in Congo so viel schlechte Geschichten über die Freiheit der Europäerinnen erzählt ...« So weit kam Selim, als Mangogul erwachte: »Ich glaube, Gott verdammt mich!« sagte er, gähnte und rieb sich die Augen, »er befindet sich noch immer zu Paris. Darf man Sie fragen, Herr Schönredner, wann Sie hoffen, wieder in Banza anzulangen, und ob ich noch lange schlafen soll? Denn Sie müssen wissen, mein lieber Freund, daß es unmöglich ist, in meiner Gegenwart eine Reise zu beginnen, ohne mir eine Anwandlung von Gähnen zu verursachen. Das ist eine üble Gewohnheit, die ich angenommen habe, seitdem ich Tavernier und andere lese.«
»Gnädigster Herr,« antwortete Selim, »ich bin schon seit einer Stunde wieder in Banza.«
»Dazu wünsch' ich Ihnen Glück,« versetzte der Sultan. Darauf wandte er sich zur Favorite: »Madam, die Stunde des Balles ist da; verfügen wir uns dahin, wenn die Ermüdung der Reise es Ihnen zuläßt.«
»Gnädigster Herr,« antwortete Mirzoza, »ich bin bereit.« Mangogul und Selim hatten schon ihre Dominos, die Favorite nahm den ihrigen. Der Sultan gab ihr die Hand, und sie begaben sich in den Ballsaal, wo sie sich trennten, um sich in der Menge zu zerstreuen. Selim folgte ihnen, »und ich auch,« sagt der gelehrte Afrikaner, »obwohl ich mehr Lust hatte zu schlafen, als tanzen zu sehen.«