Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 41
g. | Montag, 3. März 2014, 06:20 | Themenbereich: 'Aufklärung'
Fanny
Die Unterhaltung war früher zu Ende als der Tag. Darum entschloß sich Mangogul, vor Abend noch einen Versuch mit seinem Ringe zu machen, wäre es auch nur, um sich mit fröhlicheren Gedanken zu Bette zu legen, als die ihn bisher beschäftigt hatten. Er begab sich alsobald zu Fanny, aber er fand sie nicht. Nach dem Nachtmahl kam er wieder hin, sie war aber immer noch abwesend. Also verschob er seine Prüfung auf den andern Morgen.
»Heute war Mangogul,« sagt der gelehrte Afrikaner, dessen Tagebuch wir übersetzen, »um halb zehn Uhr bei Fanny.« Man hatte sie eben zu Bette gebracht. Er trat an ihr Bett, betrachtete sie eine Zeitlang und konnte nicht begreifen, wie sie mit so wenig Reizen so viele Abenteuer hatte erleben können.
Fanny ist so blond, daß sie infolgedessen nichtssagend aussieht; groß, schlottrig, hat einen unanständigen Gang, ausdruckslose Züge, wenig Anmut, ein Gesicht von einer Keckheit, die nur bei Hofe erträglich ist; gerade so viel Verstand, als die Gewohnheit, zu lieben und sich lieben zu lassen, gewähren kann. Eine Frau müßte außerordentlich dumm von Natur sein, wenn sie nach zwanzig Liebeshändeln nicht wenigstens des alltäglichen Geschwätzes Meisterin wäre; denn so weit hatte es Fanny schon gebracht.
Ganz zuletzt war sie einem Manne zuteil geworden, der ihrem Charakter ganz angemessen war. Ihre Untreue machte ihm wenig Kummer, obwohl er nicht so gut wie die ganze Welt davon unterrichtet war, wie sie es trieb. Eine Grille führte sie ihm zu, aus Gewohnheit behielt er sie bei sich, und sie führte ihm den Haushalt. Sie hatten die Nacht durch getanzt, waren um neun Uhr zu Bette gegangen und ohne weiteres eingeschlafen.
Alonsos Gleichgültigkeit würde Fanny minder gepaßt haben, wäre nicht eben deswegen so gut mit ihm auszukommen gewesen. Unsere beiden Leutchen schliefen also Rücken an Rücken recht fest, als der Sultan seinen Ring gegen Fannys Kleinod drehte. Sogleich fing es an zu reden, seine Gebieterin zu schnarchen und Alonso zu erwachen.
Nach vielem Gähnen: »Das ist nicht Alonso. Was ist die Glocke? Was soll ich? Mich deucht, ich bin erst eben ein wenig eingeschlummert. Man lasse mich in Ruh!«Das arme Ding wäre gern wieder eingeschlafen, aber das war nicht des Sultans Absicht. »Welch eine Belästigung?« fing das Kleinod wieder an. »Noch einmal, was soll ich? Wehe dem, der erlauchte Ahnen hat! Ein Kleinod von Stande befindet sich in einer dummen Lage. Könnte mich etwas über die Beschwerden meines Standes trösten, so wäre es die Gutherzigkeit des Herrn, dem ich angehöre. O, in dem Stück ist er der beste Mann von der Welt. Er hat uns nie den mindesten Seitensprung gemacht, wir aber haben dagegen auch unsre Freiheit trefflich ausgenutzt. Beim Brahma! was hätt' ich anfangen sollen, wenn ich einem der abgeschmackten Kerle zuteil geworden wäre, die nichts tun als auflauern? Das würde ein schönes Leben gegeben haben!«
Hier fügte das Kleinod einige Worte hinzu, die Mangogul nicht verstand, und entwarf darauf mit unbegreiflicher Geschwindigkeit eine Menge heroischer, komischer, burlesker, tragikomischer Auftritte, die es ganz außer Atem brachten, darauf fügte es hinzu: »Sie sehn, ich habe kein schlechtes Gedächtnis. Aber es geht mir wie allen, ich behalte doch nur das Wenigste von dem, was man mir anvertraut. Also seien Sie mit dem Erzählten zufrieden, auf mehr entsinne ich mich nicht.«
»Das ist auch genug,« sprach Mangogul zu sich selbst. Doch drehte er immer fort. »Ach, was sind Sie neugierig!« hob das Kleinod wieder an. »Als ob man sonst nichts zu tun hätte, als zu plaudern! Aber meinetwegen weiter, wenn es einmal sein muß: ich hoffe doch, wenn ich alles gesagt habe, wird es gestattet sein, etwas anderes zu tun.«
»Fanny, meine Gebieterin,« fuhr das Kleinod fort, »bekam den unerklärlichen Einfall, der Welt zu entsagen, verließ den Hof und schloß sich in ihr Haus zu Banza ein. Es war gerade in den ersten Herbstwochen, und niemand befand sich in der Stadt. Was machte sie denn in der Stadt? fragen Sie. Das weiß ich wahrhaftig nicht. Aber Fanny hat immer nur eins gemacht, und wenn sie sich damit abgegeben hätte, so müßte ich darum wissen. Wahrscheinlich hatte sie gar nichts vor. Ja, jetzt fällt mir's ein, wir brachten anderthalb Tage damit zu, nichts zu tun und vor Langerweile zu platzen.
Vor Kummer über diese Lebensweise wär' ich schier gestorben, als Amisadar sich einfallen ließ, uns herauszureißen ...« »Ach! sind Sie da, mein guter Amisadar? Das ist mir sehr lieb. Sie kommen mir sehr gelegen.« – »Wer sollte Sie in Banza vermuten?« fragte Amisadar. – »Kein Mensch, das weiß ich wohl. Weder du noch andere lassen sich so etwas träumen. Du ahnst wohl auch nicht, was mich hierher geführt hat?« – »Nein, in der Tat, das weiß ich nicht.« – »Wirklich nicht?« – »Ganz und gar nicht.« – »Nun, so höre und staune, lieber Junge, ich wollte mich bekehren.« – »Dich bekehren?« – »Allerdings. – Sehn Sie mich doch einmal an!« »Ach, Sie sind ja so reizend als jemals. Das Gesicht sieht mir nicht nach Bekehrung aus.« – »Sie scherzen.« – »Nein, auf Ehre, es ist mein völliger Ernst.« – »Ich bin entschlossen, der Welt zu entsagen; sie langweilt mich.« – »Die Grille wird Ihnen bald vergehn. Ich werde eher sterben, als Sie fromm werden.« – »Das will ich doch, sag' ich dir. Es ist keinem Manne mehr zu trauen.« – »Ist Masul Ihnen etwa untreu?« – »Nein, den sah ich seit hundert Jahren nicht.« – »Oder Zufolo?« – »Erst recht nicht, den sehe ich überhaupt nicht mehr.« – »Ah, ich weiß schon, der junge Imola?« – »Wer mag solche Zierpuppen lange behalten?« – »Was also ist los?« – »Ich weiß nicht; ich hasse die ganze Welt!« – »O, gnädige Frau, Sie haben sehr unrecht. Diese Welt, der Sie so übelwollen, kann Ihnen Ihren Verlust hundertfach ersetzen.« – »Glaubst du aufrichtig, Amisadar, daß es noch gute Seelen gibt, die der Verderbnis unsers Zeitalters entgangen sind und zu lieben verstehn?« – »Zu lieben? Geben Sie sich noch mit solchem Elend ab? Wollen Sie etwa gar geliebt werden?« – »Warum nicht?« – »Bedenken Sie nur, gnädige Frau, ein Mann, der Sie liebt, fordert ebenfalls Liebe und fordert sie ausschließlich. Sie sind zu gescheit, sich der Eifersucht und den Launen eines zärtlichen, treuen Liebhabers zu unterwerfen. Nichts ist so lästig als solche Leute. Man soll nur sie sehn, nur sie lieben, nur von ihnen träumen, nur für sie witzig, fröhlich, reizend sein. Das ist Ihnen gewiß nicht recht. Es würde Ihnen schön stehen, in so eine richtige Leidenschaft zu versinken und sich vor der ganzen Welt so lächerlich zu betragen wie eine armselige Bürgersfrau!« – »Mich deucht, Amisadar, Du hast recht. In der Tat, glaub' ich, würd' es uns nicht anstehn, lange Süßholz zu raspeln, Abwechslung ist nötig, und abwechseln will ich auch. Auch seh' ich nicht, daß die zärtlichen Frauen, die man als Muster aufstellt, glücklicher wären als andere!« – »Wer sagt Ihnen das, gnädige Frau?« – »Niemand, aber ich ahne es.« – »Trauen Sie dieser Ahnung nicht! Eine zärtliche Frau macht sich selbst und ihren Liebhaber glücklich, aber diese Rolle liegt nicht allen Frauenzimmern ...« »Auf Ehre, lieber Freund, sie liegt keinem, und alle befinden sich schlecht dabei. Welchen Vorteil kann es auch haben, sich zu binden?« – »Tausend. Eine anhängliche Frau behält ihren guten Namen, wird von ihrem Liebhaber über alles hochgeachtet, und Sie möchten nicht glauben, wieviel die Liebe der Achtung verdankt.« – »Ich verstehe nichts von derlei Reden. Du wirfst alles durcheinander: guten Namen, Liebe, Achtung und ich weiß nicht was noch alles. Man sollte glauben, Unbeständigkeit sei eine Schande. Was heißt das? Ich nehme einen Liebhaber und bin schlecht daran; ich nehme einen andern, der paßt mir auch nicht recht; ich vertausche ihn gegen einen dritten, der mir ebensowenig genehm ist; und wenn ich nun das Unglück gehabt habe, zwanzigmal schlecht zu wählen, so darf ich mich nicht beklagen, so verlangst du ...« – »Ich verlange, gnädige Frau, daß eine Dame, die sich bei ihrer ersten Wahl getäuscht hat, keine zweite anstelle, aus Furcht sich von neuem zu täuschen und aus einem Irrtum in den andern zu verfallen.« – »Welche Sittenlehre! Mich deucht, guter Freund, Du predigtest eben eine ganz andere. Darf man fragen, wie ein Frauenzimmer nach Ihrem Geschmack beschaffen sein müßte?« »Das will ich Ihnen gern sagen, meine Gnädige, aber es ist spät, und das würde nur zu weit führen ...« – »Desto besser, ich habe niemand, und du kannst mir Gesellschaft leisten. Setze dich auf diesen Armstuhl und fahre fort. So werde ich dir bequemer zuhören können.«
Amisadar gehorchte und setzte sich neben Fanny. »Sie haben da, gnädige Frau,« sagte er, beugte sich gegen sie und enthüllte ihren Busen, »einen Umhang, der Sie ganz vermummt.« – »Du hast recht.« – »Und warum so viel schöne Dinge verbergen?« sprach er und küßte, »was er sah.« – »Hören Sie doch auf! Sie sind wirklich nicht gescheit! Sie werden unverschämt, Herr Sittenrichter! Fahr' lieber in Deiner Vorlesung fort.«
»So wünscht' ich denn,« fuhr Amisadar wieder fort, »bei meiner Geliebten ein schönes Gesicht, Verstand, Empfindung und vornehmlich Anstand. Ich möchte, daß sie meine stumme Sorge um sie gutheiße; daß sie mir nicht sozusagen einen stummen Korb gäbe; daß sie mir aufrichtig sagte, ob ich ihr gefalle; daß sie mir selbst die Mittel angäbe, ihr noch mehr zu gefallen; daß sie mir die Fortschritte nicht verhehlte, die ich in ihrem Herzen machte; daß sie nur auf mich hörte, nur für mich Augen hätte, nur an mich dächte, nur von mir träumte, nur mich liebte, sich nur mit mir beschäftigte, nichts täte, als was mich davon überzeugen könnte; und daß, wenn sie endlich meinem Verlangen nachgäbe, ich deutlich sähe, daß ich alles ihrer und meiner Liebe verdankte. Das wäre ein Triumph, meine Gnädige! Wie glücklich ist der Mann, der eine solche Frau besitzt!« – »Aber, mein lieber Amisadar, du weißt nicht, was du redest. Das ist das Porträt einer Frau, die es nicht gibt.« – »Um Verzeihung, meine Gnädige, es gibt solche. Sie sind selten, das räum' ich ein. Ich war indessen so glücklich, eine zu finden. Ach! hätte der Tod sie mir nicht geraubt, denn es ist immer nur der Tod, der einem solch eine Frau raubt, vielleicht läge sie jetzt in meinen Armen.« – »Aber wie benahmst du dich denn ihr gegenüber?« – »Ich liebte sie über die Maßen. Ich versäumte keine Gelegenheit, ihr Beweise meiner Zärtlichkeit zu geben. Ich genoß der süßen Genugtuung, zu sehn, daß sie gut aufgenommen wurden. Ich war ihr ängstlich treu, sie ebenso mir. Wir stritten nur darüber, wer den andern am meisten liebte. Durch solche kleine Plänkeleien lernten wir uns besser kennen. Nie waren wir zärtlicher, als wenn wir unsre Herzen erforscht hatten. Nach einer solchen Erklärung wurden unsre Liebkosungen immer lebhafter. Wie liebevoll und wahr wurden dann unsre Blicke! Ich las in ihren Augen, sie las in den meinigen, daß wir vor gleicher wechselseitiger, Liebe brannten.« – »Und wo lief das alles hinaus?« – »Auf Freuden, die allen minder liebenden, minder wahrhaftigen Sterblichen unbekannt sind.« – »Sie genossen?« – »Ja, ich genoß eines mir unendlich teuren Glücks. Zwar die Achtung selbst berauscht mich, aber sie vermehrt den Rausch um ein großes. Wir legten uns unsre Herzen offen dar, und Sie können nicht glauben, wie sehr die Leidenschaft dabei gewann. Je tiefer mein Blick drang, je mehr Tugenden ich entdeckte, desto größer war mein Entzücken. Eine Hälfte meines Lebens verlebt' ich zu ihren Füßen, die andre sehnt' ich mich nach ihr. Sie war glücklich durch mich, ich war unaussprechlich glücklich durch sie. Ich sah sie immer mit Vergnügen und verließ sie immer ungern. So lebten wir. Jetzt entscheiden Sie, gnädige Frau, ob eine zärtliche Frau so sehr zu beklagen sei.« – »Nein, das ist sie nicht, wenn Sie mir die Wahrheit sagen; aber es wird mir schwer, Ihnen zu glauben. So liebt niemand. Und selbst die Leidenschaft, deren Sie sich bewußt sind, muß nach meinen Begriffen die Freuden, die sie gibt, durch große Unruhe erkaufen.« – »Die empfand ich auch, gnädige Frau, aber sie war mir teuer. Ich fühlte Aufwallungen der Eifersucht. Die geringste Veränderung, die ich auf dem Gesicht meiner Geliebten bemerkte, erschütterte die geheimsten Tiefen meiner Seele.« – »Welch eine Ausschweifung! Alles in allem, schließ' ich, daß man besser tut, zu lieben, wie die heutige Welt liebt; nach Gefallen zu wählen, sich treu zu bleiben, solange man sich unterhält und sich zu trennen, sobald man Langeweile fühlt oder an einem andern Gegenstand Geschmack findet. Unbeständigkeit beut uns eine Abwechslung von Freuden, die ihr liebekranke Herzen nicht kennt.« – »Ja, ich gebe zu, für kleine Lebedamen, für käufliche Frauen mag diese Manier gut genug sein; aber ein Mann von feinem zarten Gefühl gibt sich damit nicht ab. Höchstens kann ihm das die Zeit vertreiben, wenn sein Herz frei ist und er Vergleichungen anstellen will. Mit einem Wort, eine Buhlerin könnte mir nie gefallen.« – »Du hast recht, lieber Amisadar, ich höre dich gern so reden. Doch in wen bist du denn gegenwärtig verliebt?« – »In niemand, gnädige Frau, außer in Sie; aber ich wage nicht, es Ihnen zu sagen.« – »Ach, mein Lieber, wag' es immerhin, du kannst es sagen,« versetzte Fanny und sah ihn fest an.
Amisadar verstand diese Antwort sehr gut, setzte sich zu ihr auf das Sofa und fing an mit einem Bande zu tändeln, das um Fannys Busen flatterte. Man ließ ihn gewähren. Seine Hand fand kein Hindernis auf ihrem Wege und glitt weiter. Man fuhr fort, Blicke auf ihn zu schießen, die er nicht mißverstand. »Ich merkte wohl,« sagte das Kleinod, »er habe recht.« Er küßte den Busen, den er so gepriesen hatte. Man gebot ihm, einzuhalten, aber mit einem Tone, der einen Gehorsam übelgenommen hätte; daher gehorchte er auch nicht. Er küßte die Hände, küßte den Busen wieder, küßte den Mund und fand keinen Widerstand. Unmerklich schoben sich seine Lenden unter Fannys Beine. Seine Hand berührte sie, sie waren sehr wohlgebildet, Amisadar übersah das nicht. Man hörte seine Lobeserhebungen mit zerstreuten Blicken an. Durch diese Unaufmerksamkeit begünstigt, machte Amisadars Hand Fortschritte und kam gar bald bis an das Knie. Die Unaufmerksamkeit dauerte fort, und Amisadar fing an, sich zurechtzusetzen, als Fanny wieder zu sich selbst kam. Sie beschuldigte den jungen Philosophen, er überschreite die gebührende Achtung, aber nun war er zerstreut: er hörte nichts oder beantwortete die Vorwürfe, die man ihm machte, nicht anders als durch Vollendung seines Glücks.
»Wie reizend schien er mir! Unter der Menge seiner Vorgänger und Nachfolger war mir keiner jemals so zu Dank. Noch da ich von ihm spreche, bebe ich vor Erregung. Aber erlauben Sie mir, Atem zu schöpfen; mich deucht, ich rede ziemlich lange dafür, daß ich zum erstenmal rede.«
Alonso verlor kein Wort von Fannys Kleinod und war eben so begierig als Mangogul, das Ende des Auftritts zu erfahren. Beide hatten keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn das historienerzählende Kleinod fing gleich wieder an:
»Soviel ich durch Nachdenken verstehen konnte, ging Amisadar einige Tage hernach aufs Land. Man fragte ihn, was er in der Stadt gemacht habe, und er erzählte seinen Auftritt mit meiner Gebieterin. Denn einer ihrer gemeinschaftlichen Bekannten kam an unserem Haus vorbei, fragte zufällig oder absichtlich, ob die gnädige Frau da sei, ließ sich anmelden und trat herein.« – »O, gnädige Frau! Wer sollte Sie in der Stadt vermuten? Wie lang sind Sie schon hier?« – »Seit hundert Jahren, mein Lieber! Es sind schon vierzehn Tage, daß ich aller Gesellschaft entsage.« – »Darf man Ihro Gnaden fragen, warum?« – »Sie ward mir zur Last. Die Weiber leben in der Welt so ausschweifend, daß man es nicht mehr mit ihnen aushalten kann. Man müßte es ihnen entweder gleichtun, oder sich für geziert ausschreien lassen, und, aufrichtig gesagt, beides scheint mir sehr ...« – »Aber, gnädige Frau, Sie kommen mir ganz erbaulich vor. Haben etwa die Predigten des Brahminen Brelibibi Sie bekehrt?« – »Nein, es ist nur eine philosophische Anwandlung, ein Andachtsfieber. Das hat mich auf einmal gepackt, und an dem guten Amisadar lag es wahrlich nicht, wenn ich jetzt keine Heilige bin.« – »Haben Ihro Gnaden den kürzlich gesehn?« – »Ja, ein paarmal.« – »Niemand sonst?« – »Keine Seele. Es ist das einzige denkende, redende, handelnde Wesen, das mich in meiner ewigen Einsamkeit besucht hat.« – »Das ist sonderbar.« – »Sonderbar? Warum?« – »Gerade in diesen Tagen hat er auch einen Auftritt mit einer Dame aus Banza gehabt, die einsam war wie Ihro Gnaden, fromm wie Ihro Gnaden, von der Welt abgewandt wie Ihro Gnaden. Das muß ich Ihnen doch erzählen, es wird Sie vielleicht interessieren.« – »Ich zweifle nicht daran,« antwortete Fanny. »Darauf erzählte ihr Amisadars Freund ihr eignes Abenteuer Wort für Wort, wie Sie es von mir gehört haben,« sagte das Kleinod,»und als er so weit war als ich,« fragte er:»Was sagen Ihro Gnaden dazu? Ist Amisadar nicht vom Glück begünstigt?« »Er ist vielleicht ein Aufschneider,« antwortete Fanny. »Glauben Sie, daß ein Frauenzimmer so frech sein könnte, aller Schamgute Nacht zu sagen?« »Bedenken Ihro Gnaden nur,« versetzte Marsufa, »einen Namen hat Amisadar nicht genannt: was könnt' er also dabei gewinnen, uns etwas vorzureden?« – »Jetzt fällt mir's ein,« sagte Fanny, »Amisadar hat Geist, es ist ein schöner Mann. Er wird der armen Einsiedlerin wollüstige Empfindungen eingeflößt haben, unter denen sie erlag. Ja, so ist es auch! Wer solche Verführer anhört, der ist verloren, und Amisadar scheint mir einzig in seiner Art.« – »Wieso, gnädige Frau?« unterbrach sie Marsufa. »Sollte Amisadar allein die Kunst der Überredung besitzen? Wollen Sie niemand sonst die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm ein Plätzchen in Ihrer Achtung zu schenken?« – »Von wem reden Sie, wenn ich fragen darf?« – »Von mir selbst, gnädige Frau, ich finde Sie entzückend und ...« – »Ich glaube, Sie spotten meiner. Sehn Sie mich doch recht an, Marsufa. Ich bin weder weiß noch rot geschminkt. Die Schlafhaube steht mir nicht. Man möchte vor mir weglaufen.« – »Ihro Gnaden sind in einem großen Irrtum. Diese halbe Kleidung steht Ihnen wunderbar; sie gibt Ihnen so etwas Rührendes, Zärtliches! ...«
Zu solchen galanten Reden fügte Marsufa noch andere. Unvermerkt mischte auch ich mich in die Unterhaltung, und als Marsufa mit mir fertig war, fing er mit meiner Gebieterin wieder an. »Wirklich? Hat Amisadar Sie bekehren wollen? Der Mensch versteht sich trefflich aufs Bekehren. Könnten Sie mir nicht ein Kapitel aus seiner Sittenlehre wiederholen? Ich möchte wetten, sie ist von der meinigen wenig verschieden.« – »Wir haben gewisse Punkte der Liebe gründlich untersucht. Wir haben den Unterschied zwischen der Zärtlichen und der Verbuhlten genau erörtert. Er ist für die Zärtliche.« – »Sie auch ohne Zweifel?« – »Keineswegs, mein Lieber. Ich gab mir alle mögliche Mühe, ihm zu beweisen, wir wären eine wie die andre und handelten alle nach den nämlichen Grundsätzen. Er ist dieser Meinung nicht. Er findet einen unendlichen Unterschied, der aber, denk' ich, nur in seiner Einbildung besteht. Er hat sich irgendein idealisches Geschöpf erschaffen, ein weibliches Hirngespinst, ein Luftgebild, dem er einen Unterrock anzieht.« – »Gnädige Frau,« antwortete Marsufa, »ich kenne Amisadar. Es ist ein Mann von Verstand, er hat viel Verbindungen mit Frauenzimmern gehabt. Sagt er Ihnen, es gebe solche Weiber, so ...« – »Es mag solche geben oder nicht,« unterbrach ihn Fanny, »ihre Manier wird nie die meinige!« – »Ganz gewiß nicht, gnädige Frau,« versetzte Marsufa. »Ihro Gnaden haben eine Lebensart erwählt, die sich für Ihre Geburt und für Ihre Verdienste besser schickt. Solche Zierpuppen muß man den Philosophen überlassen; am Hofe würden die versauern.«
Hier schwieg Fannys Kleinod. Es war eine Haupt-Eigenschaft dieser Redner, zu rechter Zeit einzuhalten. So sprachen sie, als ob sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan hätten. Daraus folgerten einige Schriftsteller, sie wären bloße Maschinen. Daran sieht man ihre Methode. Hier wiederholt der gelehrte Afrikaner lang und breit den metaphysischen Erweis der Kartesianer gegen die Seele der Tiere und wendet ihn mit allem nur möglichen Scharfsinn auf das Geschwätz der Kleinode an. Mit einem Wort, er ist der Meinung, die Kleinode hätten gesprochen, wie die Vögel singen: das ist, ohne Lehrmeister, dennoch so vollkommen, daß nicht daran zu zweifeln sei, ein höheres Wesen habe durch ihren Mund geredet.
»Und was fängt er mit seinem Fürsten an?« werdet Ihr mich fragen. Er schickt ihn der Favorite zur Mittagstafel; wenigstens finden wir ihn dort im nächsten Abschnitt.
Treue und Bigotterie