Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 35
g. | Mittwoch, 11. Dezember 2013, 06:04 | Themenbereich: 'Aufklärung'
Das SchauspielDie Favorite verliert ihre Wette? Na, wahrscheinlich nicht.
Hätte man in Congo an guter Deklamation Geschmack gehabt, so würde man einiger Komödianten haben entraten können. Die Gesellschaft bestand aus dreißig Personen, worunter kaum ein großer Schauspieler und zwei mittelmäßige Schauspielerinnen waren. Der Geist der Dichter mußte sich zu der Mittelmäßigkeit des großen Haufens herabstimmen, und man durfte sich nicht schmeicheln, daß ein Stück mit nur irgendwelchem Erfolge gespielt werden würde, wenn man nicht so vorsichtig gewesen war, seine Charaktere nach den Untugenden der Komödianten umzumodeln. Das nannte man zu meiner Zeit Theaterpraktik. Vordem modelten sich die Schauspieler nach den Stücken, jetzt machte man Stücke für die Schauspieler. Bot jemand der Bühne ein neues Drama an, so untersuchte man ohne Widerrede, ob der Vorwurf unterhaltsam wäre, der Knoten gut geschürzt, die Charaktere wohlbegründet, die Sprache rein und fließend sei; fand sich aber keine Rolle darin für Roseius und Amiane, so nahm man es nicht.
Der Kissar Agasi, Oberaufseher der Großherrlichen Vergnügungen, hatte die Gesellschaft auf gut Glück verschrieben, und an diesem Tage gab man im Serail die erste Vorstellung eines Trauerspiels. Es war von einem neueren Dichter, der seit so langer Zeit mit Beifall überhäuft war, daß, selbst wenn sein Stück nichts als ein Gewebe von Ungereimtheiten gewesen wäre, man es doch gewohnheitsgemäß beklatscht haben würde. Aber er hatte sich nicht verleugnet. Sein Trauerspiel war gut geschrieben, die Auftritte mit Kunst vorbereitet, die Ereignisse geschickt gesteigert. Die Teilnahme wuchs mit jedem Augenblick, die Leidenschaften entwickelten sich immer mehr, die Akte zwanglos mitsammen verbunden waren voller Handlung; der Zuschauer war unablässig gespannt auf das, was kommen würde, und zufrieden mit dem, was geschehen war. Schon spielte der vierte Akt dieses Meisterwerkes, eine lebhafte Szene diente eben zur Vorbereitung einer wichtigeren, als Mangogul, um sich nicht dadurch lächerlich zu machen, daß er bei rührenden Stellen Achtung gäbe, sein Augenglas hervorzog, und um den Unaufmerksamen zu heucheln, von einer Loge in die andre blickte. Da fiel ihm ein Frauenzimmer auf, das sehr gerührt zu sein schien, aber von einer Rührung, die mit dem Stücke wenig zu tun zu haben, sondern sehr unangebracht zu sein schien. Sogleich drehte er seinen Ring gegen sie, und mitten in einer sehr traurigen Erkennungsszene hörte man ein Kleinod nach Luft schnappen und dem Schauspieler zuseufzen: »Ach! ... Ach! ... Orgoglio, halt ein ... du erschütterst mich zu sehr ... Ach! ... Ach! ... das halt' ich nicht aus!«
Man horchte auf, man sah allenthalben umher, von wannen diese Stimme komme, man sagte sich im Parterre, es habe ein Kleinod geredet. »Welches Kleinod? Was hat's gesagt?« fragte man sich. Während man es zu erfahren suchte, hörte man nicht auf, mit den Händen zu klatschen und »dacapo!« »dacapo!« zu rufen. Der Dichter stand unterdessen hinter den Kulissen, fürchtete, dieser unzeitige Auftritt möchte sein Stück unterbrechen, schäumte vor Wut und wünschte alle Kleinode zum Teufel. Der Lärm war groß und anhaltend. Nur aus Achtung vor dem Sultan blieb es bei diesem Zwischenfall. Aber Mangogul winkte zur Stille, die Schauspieler fuhren fort und kamen zu Ende.
Doch war der Sultan neugierig, die Fortsetzung dieser öffentlichen Liebeserklärung zu erfahren, und ließ dem Kleinod aufpassen, von dem sie kam. Bald erfuhr er, der Schauspieler sei zu Erifilen bestellt. Kraft seines Ringes war er vor ihm da und befand sich im Gemach dieser Dame, als Orgoglio gemeldet wurde.
Erifile war gerüstet, d.h. wollüstig entkleidet, und nachlässig auf einem Ruhelager hingestreckt. Der Schauspieler trat herein, voller Wichtigkeit, stolz, eingebildet und geckenhaft. In seiner Linken schwenkte er einen einfachen, mit einer weißen Feder verzierten Hut und mit den Fingerspitzen seiner Rechten streichelte er sich die Nase. Diese seine theatralische Haltung pflegte von den Kennern sehr bewundert zu werden. Seine Verbeugung war artig, seine Begrüßung vertraulich: »Wie schön Sie sind!« sprach er in geziertem Tone zu Erifilen. »Wissen Sie wohl, daß Sie im Negligé entzückend sind?«
Das Benehmen dieses Windbeutels ärgerte den Sultan. Ein junger Fürst weiß nicht immer, was draußen in der Welt Brauch ist. »So gefall' ich dir also, lieber Junge?« sagte Erifile. – »Über alle Maßen.« – »Das ist mir lieb. Sei doch so gütig, mir die Stelle noch einmal zu wiederholen, die mich heute abend so tief erschütterte. Die Stelle ... ja, ja, die ... Ganz recht ... O, wie der Schelm verführerisch ist! ... Aber weiter! ... weiter ... das rührt mich außerordentlich!«
Und Erifile warf Blicke auf ihren Helden, die mehr als Worte sagten, und reichte ihm eine Hand, die der unverschämte Orgoglio nur obenhin wie zur Quittung küßte. Denn stolzer auf sein Talent als auf seine Eroberung, war seine Seele ganz bei seiner Deklamation, und seine gefühlvolle Zuhörerin beschwor ihn, bald aufzuhören, bald fortzufahren. Mangogul schloß aus allen Bewegungen, daß ihr Kleinod gern eine Rolle spielen würde bei dieser Probe, und er zog es vor, das Ende des Auftritts lieber zu erraten, als ihm beizuwohnen. Er verschwand und begab sich zur Favorite, die seiner wartete.
Der Sultan erzählte ihr den Vorfall. »Was Sie da sagen, Fürst!« rief sie aus. »Sind also die Weiber zum tiefsten Grade der Erniedrigung herabgesunken? Ein Schauspieler! Ein Sklave des Publikums! Ein Lustigmacher! Ja, hätten diese Menschen nur das Vorurteil gegen ihren Stand wider sich! Aber die meisten sind ohne Sitten und Grundsätze, und Orgoglio ist nur ein Klotz unter ihnen. Er hat niemals selbst gedacht, und hätte er nicht Rollen auswendig gelernt, vielleicht würde er nie geredet haben.«
»Wonne meines Herzens,« antwortete Mangogul, »Sie wissen nicht, worüber Sie klagen. Haben Sie denn Hariens Koppel vergessen? Ein Schauspieler scheint mir doch auch so viel wert wie ein Mops.«
»Sie haben recht, Fürst,« versetzte die Favorite. »Ich bin nicht gescheit, daß ich mich um Geschöpfe bekümmere, die der Mühe nicht wert sind. Palabria bete ihre Wechselbälge an; Salica lasse ihre Nervenschwäche durch Farfadi vertreiben, wie sie es versteht; Haria lebe und sterbe mitten unter ihrem Vieh; Erifile gebe sich allen Seiltänzern von Congo preis: was geht das mich an? Ich kann nichts dabei verlieren als ein Lustschloß. Das muß ich aufgeben, seh' ich, und ich bin ganz dazu entschlossen.«
»Ade, kleiner Wickelschwanzaffe!« sagte Mangogul.
»Ade, kleiner Wickelschwanzaffe!« wiederholte Mirzoza, »und ade auch du gute Meinung, die ich von meinem Geschlecht hatte! Die werd' ich wohl niemals wieder finden. Fürst, erlauben Sie mir, daß ich wenigstens vierzehn Tage lang kein Frauenzimmer vor mich lasse?«
»Man muß doch Menschen sehn,« versetzte der Sultan.
»Ich werde Ihrer Gesellschaft genießen oder warten,« antwortete die Favorite, »und sollte ich einige Augenblicke übrig haben, so geb ich sie Ricarie oder Selim, die mir zugetan sind, und deren Umgang mir gefällt. Hab' ich der Gelehrsamkeit meines Vorlesers genug, so wird ihr Kammerherr mich mit den Erfolgen seiner Jugend unterhalten.«