Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Freitag, 21. März 2014
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 48
Wunder der Vorzeit


Die Favorite war sehr jung. Gegen das Ende der Regierung Erguebzeds geboren, hatte sie fast gar keine Vorstellung von dem Hofe Kanoglus. Ein beiläufig hingeworfenes Wort erweckte ihre Neugierde für die Wunder, welche der Genius Cucufa dem guten Fürsten zuliebe gewirkt hatte, und niemand konnte sie besser darüber unterrichten als Selim: er war Zeuge jener Begebenheiten gewesen, er hatte teil daran genommen und kannte die Geschichte der Vorzeit aus dem Grunde. Als sie eines Tages allein mit ihm war, brachte Mirzoza das Gespräch auf dieses Kapitel und fragte ihn, ob denn die Regierung Kanoglus, von der man so viel Aufhebens mache, erstaunenswürdigere Zeichen gesehen habe, als die, welche jetzt die Aufmerksamkeit ganz Congos erregten.

»Ich habe gar kein Interesse daran, gnädige Frau,« antwortete Selim, »die alte Zeit der des jetzt regierenden Fürsten vorzuziehen. Es geschehen große Dinge, sie sind aber vielleicht nur Vorläufer derjenigen, wodurch Mangogul künftig berühmt werden wird; ich bin schon zu bejahrt, als daß ich mir schmeicheln dürfte, das zu erleben.« »Sie irren sich,« erwiderte Mirzoza, »Sie haben den Beinamen ›Der Ewige‹ erworben und werden ihn auch verdienen. Aber erzählen Sie mir, was Sie sahen.«
»Gnädige Frau,« fuhr Selim fort, »Kanoglu's Regierung dauerte lange, unsere Dichter nennen sie das goldene Zeitalter. Dieser Name gebührt ihr in mancher Rücksicht. Sie zeichnete sich durch Glück und Siege aus, aber ihre Vorzüge waren auch mit Nachteilen vermischt, welche beweisen, daß dieses Gold zuweilen von schlechtem Gehalt war. Der Hof, der dem übrigen Lande den Ton angibt, war sehr verbuhlt. Der Sultan hatte Mätressen, die Großen suchten eine Ehre darin, ihm nachzuahmen, und unmerklich tat es auch das ganze Volk. Die Pracht der Kleider, der Wohnungsausstattungen, der Bedienten war maßlos. Man gestaltete den Aufwand bei den Mahlzeiten zu einer Kunst. Man spielte hoch, machte Schulden, bezahlte nicht und verschwendete, solange man Geld und Kredit besaß. Man erließ gegen die Schwelgerei schöne Verordnungen, die aber nicht in Kraft traten. Man nahm Städte ein, eroberte Provinzen, begann Palastbauten und erschöpfte das Reich an Blut und Gut. Die Völker sangen Siegeslieder und starben vor Hunger. Die Großen besaßen prächtige Schlösser, herrliche Gärten, und ihre Ländereien blieben brach liegen. Hundert Kriegsschiffe machten uns zu Herren des Meeres und zum Schrecken unserer Nachbarn, aber ein guter Kopf berechnete aufs Haar, was dem Staate der Unterhalt dieser Schiffsgerippe kostete und trotz der Gegenvorstellungen der andern Minister ward befohlen, sie zum Freudenfeuer zu verbrennen. Der königliche Schatz war ein ungeheurer leerer Kasten, den diese elende Wirtschaft nicht anfüllte; und Gold und Silber wurden so rar, daß die Münzhäuser eines schönen Morgens in Papiermühlen verwandelt wurden. Um unser Glück zu vervollkommnen, ließ sich Kanoglu von Fanatikern bereden, es sei von höchster Wichtigkeit, daß alle seine Untertanen ihm ähnlich sähen, blaue Augen, Entennasen und einen roten Schnurrbart hätten wie er. Er verjagte mehr als zwei Millionen aus Congo, weil sie nicht diese Uniform trugen, oder weil sie sich weigerten, sich ihm ähnlich zu machen. Das, Madam, ist jene gute alte Zeit, das ist jenes goldene Zeitalter, das Sie täglich zurückwünschen hören. Aber lassen Sie die Faselhänse schwatzen und glauben Sie, auch wir haben unsere Turennes und unsere Colberts; und die gegenwärtige Zeit ist im großen und ganzen besser als die vergangene. Sind Mangoguls Untertanen glücklicher als Kanoglus, so ist Seiner Hoheit Regierung glorreicher als die seines Großvaters; denn das Glück der Untertanen ist der eigentliche Maßstab der Fürstengröße. Doch jetzt wollen wir wieder auf Seltsamkeiten unter der Regierung Kanoglus zurückkommen. Zuerst ein Wort über den Ursprung der Hampelmänner.«
»Selim, das erlaß ich Ihnen,« sagte die Favorite, »die Geschichte kenne ich auswendig. Gehen Sie darüber weg.« »Darf ich fragen, gnädige Frau,« sprach Selim, »woher Sie sie haben?« »Aus gedruckten Büchern,« antwortete Mirzoza. »Jawohl, gnädige Frau,« erwiderte Selim, »von Leuten, die selber nichts davon wußten. Ich kann mich ärgern, wenn ich sehe, daß armselige Schmierer, die dem Fürsten niemals nahe kamen, als etwa bei seinem Einzuge in die Residenz oder bei einer anderen Feierlichkeit, sich einfallen lassen, Geschichte zu machen ...« »Gnädige Frau,« fuhr Selim fort, »wir hatten die Nacht auf einem Maskenballe im großen Saal des Serails verbracht, als uns der Genius Cucufa, der erklärte Schutzheilige des regierenden Hauses, erschien und uns befahl, zu Bette zu gehen und vierundzwanzig Stunden hintereinander weg zu schlafen. Man gehorchte, und als die Zeit um war, fand sich der Serail in eine große prächtige Galerie voller Hampelmänner verwandelt. Am äußersten Ende saß Kanoglu auf seinem Thron. Ein langer abgenutzter Faden hing ihm zwischen den Beinen herunter. Eine alte verlebte Hexe zog unaufhörlich daran und bewegte mit einer Handbewegung eine unzählbare Menge untergeordneten Hampelmänner, welche an feinen, kaum sichtbaren Fäden hingen, die aus Kanoglus Fingern und Fußzehen herauskamen. Sie zog, und sogleich fertigte und siegelte der Seneschall verderbliche Edikte, oder hielt zu Ehren der Hexe eine Lobrede, die sein Schreiber ihm ins Ohr raunte. Der Kriegsminister versandte an das Heer Streichhölzer, der Oberaufseher der Finanzen erbaute Häuser und ließ die Soldaten Hungers sterben. Ebenso die andern Hampelmänner.
Bewegten sich einige Hampelmänner nicht nach Wunsch, hoben sie ihre Arme nicht hoch genug, beugten sie ihre Knie nicht tief genug, so zerriß die Zauberin ihre Verbindungsfäden mit einem Handgriff, und sie erstarrten. Ich entsinne mich noch immer zweier tapferen Emirs, die sich ihren Unwillen zuzogen und zeitlebens einen gelähmten Arm behielten.


Die Fäden, die nach allen Seiten hin von Kanoglus Körper ausgingen, reichten in unermeßliche Weiten und setzten aus dem innersten Congo bis an die Grenze von Monoemugi Heere von Hampelmännern in Bewegung oder in Stillstand. Ein Ziehen an dem Faden und eine Stadt wurde belagert, man legte Laufgräben an, schoß eine Bresche, und der Feind mußte kapitulieren. Aber siehe da: ein zweites Zupfen an dem Faden, und das Artilleriefeuer wurde schwächer, der Angriff weniger kräftig, man kam dem belagerten Platze zu Hilfe, die Generale wurden uneinig untereinander, man griff uns an, überrumpelte uns und schlug uns völlig in die Flucht.
Diese üblen Nachrichten betrübten Kanoglu niemals; er erfuhr sie erst dann, wenn seine Untertanen sie bereits vergessen hatten, und die Hexe ließ sie ihm nur durch Hampelmänner melden, die alle einen Faden an ihrer Zungenspitze hatten und bei der Strafe des Stummwerdens nichts sagen durften, als was ihr gefiel. Ein andermal machte uns jungen Tollköpfen ein Abenteuer viel Vergnügen, das frommen Seelen zu großem Ärgernis gereichte. Die Frauenzimmer begannen Purzelbäume zu schießen und auf dem Kopfe zu gehen, die Beine in die Luft, die Hände in ihre Pantoffeln steckend.


Anfangs störte das alle Bekanntschaften, und man mußte erst die neuen Gesichter studieren. Viele wurden vernachlässigt, die man nicht mehr liebenswürdig fand, als sie sich zeigten, und andere, um die sich kein Mensch gekümmert hatte, gewannen unendlich bei näherer Bekanntschaft. Unter- und Oberröcke fielen über die Augen, man lief Gefahr, sich zu verirren oder fehlzutreten, daher verkürzte man die einen und schnitt die anderen aus. So entstand die Mode der kurzen Unterröcke und ausgeschnittenen Kleider. Als sich die Frauenzimmer wieder auf die Füße stellten, behielten sie die Tracht bei, wie sie war, und wenn man sich die Unterröcke unserer Damen genauer ansieht, so wird man leicht gewahr, daß sie nicht gemacht sind, um getragen zu werden, wie man sie heutzutage trägt. Jede Mode, die nur einen Zweck hat, wird schnell vergehen. Um zu dauern, muß sie mindestens zweierlei Absichten entsprechen. Man erfand zur selbigen Zeit das Geheimnis, den Busen herabzuschnüren; und man benutzt es jetzt, um ihn heraufzuschnüren.


Die Betschwestern, erstaunt darüber, daß sie den Kopf unten und die Beine oben hatten, bedeckten sich anfangs mit den Händen. Aber über diese Vorsicht verloren sie das Gleichgewicht und stolperten gröblich. Auf einen Wink der Brahminen banden sie sich in der Folge die Röcke an den Beinen mit kleinen schwarzen Bändchen fest. Die Damen von Welt fanden diesen Ausweg lächerlich und verbreiteten, das verhindere das Atemholen und verursache Nervenschwäche. Dieses Wunder hatte glückliche Folgen: es verursachte viele Hochzeiten oder dergleichen und eine Menge Bekehrungen. Alle Weiber, deren Backen häßlich waren, stürzten sich kopfüber in die Andacht und trugen schwarze Bändchen. Vier Missionsgesellschaften der Brahminen hätten nicht soviel ausgerichtet.


Kaum hatten wir diese Prüfung überstanden, als wir eine andere, zwar nicht so allgemeine, aber nicht minder lehrreiche zu beobachten hatten. Alle jungen Mädchen vom dreizehnten bis zum achtzehnten, neunzehnten, zwanzigsten Jahre und darüber standen eines schönen Morgens auf, und ihr Mittelfinger stak – raten Sie wo, gnädige Frau?« sagte Selim zur Favorite. »Weder im Munde, noch im Ohr, noch, nach türkischer Art, sonstwo. Man erriet ihre Krankheit und griff eiligst zu Gegenmitteln, Seit der Zeit sind wir gewöhnt, unsern Mädchen Männer zu geben, wenn wir ihnen Puppen geben sollten.


Ein anderer Segen der guten alten Zeit: Kanoglus Hof wimmelte von Stutzern; ich hatte die Ehre, zu ihnen zu gehören. Als ich sie eines Tages von den jungen Herren in Frankreich unterhielt, ward ich gewahr, daß uns unsere Schultern über den Kopf wuchsen. Dabei aber blieb es nicht, wir drehten uns alle auf dem Absatz herum.« »Und was war daran Merkwürdiges?« fragte die Favorite. »Nichts, gnädige Frau,« antwortete Selim, »als daß die erste Verwandlung die Entstehung der hohen Schultern veranlaßte, die in Ihrer Kindheit so Mode waren, und die zweite die der Lästerer, deren Reich wohl noch besteht. Man begann damals wie heute ein Gespräch mit jemand, das man, sich umdrehend, zu einem Zweiten gewendet, fortsetzte und mit einem Dritten beendete, für den das halb unverständlich, halb beleidigend war.


Ein andermal wurden wir alle zu gleicher Zeit kurzsichtig. Man mußte zu Bion seine Zuflucht nehmen. Der Spitzbube verkaufte uns Augengläser, das Stück zu zehn Zechinen, und wir fuhren fort, sie zu gebrauchen, selbst als wir unser Gesicht wiedererhielten. Das, gnädige Frau, ist der Ursprung der Operngläser.

Ich weiß nicht, was die galanten Damen damals dem Genius Cucufa taten, aber er rächte sich auf eine grausame Weise. Nachdem sie ein Jahr lang ihre Nächte beim Tanz, Spiel und Schmaus und ihre Tage auf Spazierfahrten oder im Arme ihrer Liebhaber verbracht hatten, waren sie zu ihrem Erstaunen auf einmal alle häßlich. Eine war schwarz wie ein Maulwurf, eine andere kupferrot, die blaß und mager, jene gelb und runzlig. Nun galt es, diesen verderblichen Zauber verhehlen, und unsere Chemiker entdeckten die weiße und rote Schminke, Salben, Wasser, Venustücher, Jungfernmilch, Schönpflästerchen und tausend andere Mittel, deren sie sich bedienten, um nicht mehr häßlich zu sein, sondern scheußlich zu werden. Cucufas Fluch dauerte fort, aber Erguebzed, der gern schöne Weiber sah, ward ihr Fürsprecher. Nun tat der Genius, was er vermochte, aber die Kraft seines Zaubers war so mächtig, daß er ihn nicht ganz wieder aufheben konnte; und so blieben die Frauenzimmer am Hofe, wie Ihro Gnaden sie noch erblicken.«
»War es ebenso mit dem anderen Zauber?« fragte Mirzoza. »Nein, Madam,« antwortete Selim. »Der nahm früher oder später ein Ende. Die hohen Schultern senkten sich nach und nach, man ward wieder gerade, und aus Furcht, bucklig zu erscheinen, trug man die Nase hoch und nahm eine gezierte Stellung an. Nun fuhr man fort, sich herumzudrehen, und tut es noch jetzt. Fangen Sie ein ernsthaftes oder vernünftiges Gespräch in Gegenwart eines jungen hübschen Herrn an, und husch – werden Sie sehen, daß er Sie verläßt, sich wirbelnd umdreht und jemand eine Parodie vorsummt, der ihn fragt, was er Neues von der Armee wisse oder wie er sich befinde? Auch tuschelt er ihm wohl ins Ohr, daß er gestern abend mit der Rabon, einem entzückenden Mädchen, soupiert habe; es sei wieder ein neuer Roman erschienen, er habe einige Seiten davon gelesen: ein schöner Roman, wirklich ein ausgezeichneter Roman und – husch! dreht er sich zu einer Dame, fragt sie, ob sie die neue Oper schon gehört habe, und sagt, daß die Daugeville hinreißend war.«


Mirzoza fand diese Torheit ganz belustigend und fragte Selim, ob er sie auch mitgemacht hätte. »Aber wie denn, Madam,« versetzte der alte Höfling, »wie hätte ich mir erlauben dürfen, sie nicht mitzumachen, ohne für den Bewohner einer andern Welt zu gelten? Ich machte einen hohen Rücken, richtete mich wieder auf, spreizte mich, äugelte durchs Glas, ich drehte mich auf dem Absatz herum, schwatzte wie jeder andere, und all mein Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, alle diese Verkehrtheiten zuerst mitzumachen und ja nicht zuletzt aufzugeben.« So sprach Selim, als Mangogul erschien. Der gelehrte Afrikaner berichtet nicht, wo der während dieses Kapitels sich befand, noch womit er sich beschäftigte. Wahrscheinlich ist es dem Fürsten von Congo verstattet, gleichgültige Handlungen zu begehen, zuweilen unbedeutende Sachen zu sprechen und den übrigen Menschen zu gleichen, deren größte Lebenszeit mit Nichtigkeiten hingebracht wird oder mit Dingen, die man nicht zu erfahren braucht.
Eine satirische Kulturgeschichte der Fürstenhöfe.


Im Vergleich mit der Prüderie des 19. Jahrhunderts ziemlich unverblümt: „Alle jungen Mädchen vom dreizehnten bis zum achtzehnten, neunzehnten, zwanzigsten Jahre und darüber standen eines schönen Morgens auf, und ihr Mittelfinger stak – raten Sie wo, gnädige Frau?“

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