Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Montag, 9. Dezember 2013
Denis Diderot: "Die geschwätzigen Kleinode" 34
Die Stutzer

Zweimal wöchentlich sah die Favorite große Gesellschaft bei sich. Den Abend vorher nannte sie die Damen, die sie dabei wünschte, und der Sultan gab die Liste der Herren. Man kam sehr geputzt dahin. Die Unterhaltung war allgemein oder geteilt. Wenn die galante Chronik des Hofes keinen Stoff zu unterhaltsamen Abenteuern aus dem Reiche der Liebe darbot, so erfand man dergleichen oder gab sich wohl gar mit elenden Märchen ab und nannte das dann »Tausendundeine Nacht fortsetzen«. Die Herren hatten Erlaubnis, allerlei Seltsamkeiten zu sagen, und die Damen durften sticken beim Zuhören. Der Sultan und die Favorite mischten sich ungezwungen unter ihre Untertanen; ihre Gegenwart stand keiner Unterhaltung im Wege, und Langeweile war sehr selten. Mangogul hatte früh gelernt, daß ein Vergnügen sich nur an des Thrones Stufen fände, und niemand stieg so gern und mit so vielem Anstand herunter als er, niemand wußte besser, zur rechten Zeit die Majestät abzulegen.

Während er des Senators Hippomanes verschwiegenes Heim durcheilte, wartete Mirzoza seiner im Rosen-Saal. Mit ihr waren die junge Zaide, die fröhliche Leokris, die lebhafte Serica, Amine, die an zwei Emirs verheiratete Bensaire, die spröde Orfise und die Groß-Seneschallin Vetula, die weltliche Mutter aller Brahminen. Bald erschien auch der Sultan. Ihn begleitete der Graf Maikäfer und der Chevalier von Flachkopf.

Der alte Wollüstling Trübewasser und sein Schüler, der junge Murmelbach, folgten. Zwei Minuten darauf kamen der Pascha Greifgreif, der Aga Breitschnabel und der Seliktar Sammtpfötchen. Das waren die ausgezeichnetsten Stutzer des Hofes. Mangogul hatte sie mit Fleiß versammelt. Er hatte von ihren ritterlichen Taten gegen die Weiber dermaßen die Ohren voll, daß er sich endlich vornahm, mit Gewißheit zu erfahren, was an der Sache sei: »Nun, Ihr Herren,« sagte er, »Ihr wißt doch alles, was im Gebiet der Liebe vorgeht, was also gibt es neues? Wie steht's mit den redseligen Kleinoden?«

»Gnädigster Herr,« antwortete Trübewasser, »ihre Sprachverwirrung nimmt immer zu. Geht das so fort, so wird bald niemand mehr sein eignes Wort verstehen. Aber unter allen Aussagen ist keine possierlicher, als die von Zobeidens Kleinod. Es hat ihrem Manne eine ganze Liste von Abenteuern geliefert.« »Es übersteigt allen Glauben,« fuhr Murmelbach fort: »Fünf Agas, zwanzig Rittmeister, beinahe eine vollständige Janitscharenkompanie, zwölf Brahminen! Man sagt, es habe auch mich genannt, aber das ist Verleumdung.«

»Das Gute an der Sache ist,« nahm Greifgreif das Wort, »daß der Ehemann erschreckt davonlief und sich beide Ohren zuhielt.«

»Das ist ja abscheulich,« sagte Mirzoza. »Ja, gnädige Frau,« unterbrach sie Breitschnabel, »schrecklich! schändlich! abscheulich!« »Alles das und noch mehr,« sprach die Favorite weiter, »einer Frau auf bloßes Hörensagen die Ehre abzusprechen!«

»Es ist buchstäblich wahr, meine Gnädige, Murmelbach hat nichts übertrieben,« sagte Sammtpfötchen. »Es ist Tatsache,« sagte Greifgreif. »Es ist bereits ein Epigramm darüber im Umlauf,« setzte Maikäfer hinzu, »und Epigramme macht man nicht ohne Grund. Warum sollten die Kleinode nicht von Murmelbach reden dürfen? Hat Cynarens Kleinod doch auch meiner erwähnt und mich unter Leute gebracht, deren Gesellschaft mir gar nicht ansteht! Wie kann man der gleichen vermeiden?« »Man tröstet sich sehr schnell darüber,« sprach Sammtpfötchen. »Sie haben recht,« antwortete Maikäfer und fing an zu singen:

»Das Glück hat mir so wohlgetan,
daß ich es selbst kaum glauben kann!«


»Graf,« sprach Mangogul und wandte sich zu Maikäfer, »Sie haben also Cynaren genau gekannt?«

»Gnädigster Herr,« antwortete Sammtpfötchen, »wer wüßte es nicht? Er ist länger als einen Monat mit ihr herumgezogen, man sang schon Liedchen über sie. Die Liebschaft würde noch andauern, aber er bemerkte endlich, daß sie nicht hübsch sei und einen großen Mund habe.« »Stimmt,« antwortete Maikäfer, »aber dafür besaß sie einen andern Vorzug, der äußerst selten ist.«

»Ist das Abenteuer schon lange her?« fragte die spröde Orfise. »Gnädige Frau,« sagte Maikäfer, »der eigentlichen Zeit kann ich mich nicht genau mehr erinnern, ich muß erst die chronologischen Tabellen meiner Liebschaften nachsehn. Dann läßt sich Zeit und Stunde bestimmen; aber es ist ein dicker Foliant, mit dem sich meine Leute im Vorzimmer die Zeit vertreiben.«

»Warten Sie,« sprach Trübewasser »ich kann Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Gerade ein Jahr später überwarf sich Greifgreif mit der Frau Seneschall. Sie besitzt ein Engelsgedächtnis, sie wird uns gewiß sagen ...« »Daß Ihre Angabe eine Unwahrheit ist,« sprach die Seneschallin würdig. »Die ganze Welt weiß, daß solche Windbeutel nie nach meinem Geschmack waren.« »Dennoch,« versetzte Trübewasser, »werden Ihre Exzellenz uns nicht einreden, daß Murmelbach sehr artig war, als man ihn über eine verborgene Treppe in Ihr Gemach führte, sooft Seine Hoheit den Herrn Groß-Seneschall in den Staatsrat berief.« »Ich finde es höchst abgeschmackt,« setzte Sammtpfötchen hinzu, »sich ohne Grund und Ursache verstohlenerweise bei einer Dame einzuschleichen: denn man hielt Murmelbachs Besuche nur für ... Besuche, und Ihre Exzellenz genossen damals schon den Tugendruf, den Sie in der Folge so gut behauptet haben.«

»Das ist ja aber schon ewig lange her,« sagte Flachkopf. »Um die nämliche Zeit ward Zuleica dem Herrn Seliktar ungetreu, der ihr untertänigster Diener war, und machte Greifgreif glücklich, dem sie sechs Monate später den Laufpaß gab. Jetzt ist Breitschnabel an der Reihe. Ich neide meinem Freunde sein Glück nicht. Ich sehe, bewundere, und mache keine Ansprüche.«

»Und doch ist Zuleica sehr liebenswürdig,« sagte die Favorite. »Sie hat Witz, Geschmack und einen reizenden Ausdruck in ihrem Gesicht, der mir lieber ist als Schönheit.« »Das gebe ich zu,« antwortete Flachkopf, »aber sie ist mager, hat keinen Busen und zum Erbarmen knöcherne Lenden.« »So genau sind Sie mit ihr bekannt?« fragte die Favorite. »Ach, gnädige Frau,« versetzte Maikäfer, »so etwas läßt sich erraten. Ich habe bei Zuleica nur wenig verkehrt und kenne sie nicht besser als Flachkopf.« »Das will ich glauben,« sagte die Favorite.

»Aber,« sprach der Seliktar, »darf man Herrn von Greifgreif fragen, ob er Zirfilen lange für sich allein behalten wird? Das ist eine niedliche Frau. Sie hat einen sehr schönen Leib.«

»Wer zweifelt daran?« setzte Murmelbach hinzu.

»Der Seliktar hat's gut,« fuhr Flachkopf fort. »Und Flachkopf,« unterbrach ihn der Seliktar, »hat am ganzen Hofe das meiste Glück. Er hat, soviel ich weiß, zwei Wessirs-Frauen, die beiden schönsten Opernsängerinnen, und ein allerliebstes Bürgermädchen, das er in einem Häuschen untergebracht hat.« – »Und ich gäbe,« erwiderte Flachkopf, »die Wessirs-Frauen, beide Sängerinnen und das Bürgermädchen mit Freuden um einen einzigen Blick einer Dame, deren Gunst der Seliktar genießt, und die sich nicht einmal beikommen läßt, daß die ganze Welt darum weiß. Wahrhaftig, gnädige Frau,« sagt' er und wandte sich gegen Leokris, »Sie haben Farben zum Entzücken.«

»Maikäfer,« sagte Murmelbach, »hat eine ewige Zeit zwischen Melissen und Fatimen geschwankt. Das sind zwei reizende Frauen. Heute gehört er der blonden Melissa und morgen der braunen Fatima.« »Das ist eine sonderbare Verlegenheit,« fuhr Flachkopf fort, »warum nahm er sie nicht alle beide?« »Das tat er endlich,« sagte Trübewasser.

Unsre Stutzer waren, wie man sieht, auf zu gutem Wege, um stehn zu bleiben, als sich Zobeide, Cynare, Zuleica, Melissa, Fatime und Zirfile anmelden ließen. Das war ihnen für den Augenblick ungelegen und brachte sie aus der Fassung. Doch erholten sie sich bald und kamen auf andre Damen zu reden, die sie mit ihren Lästerungen nur verschont hatten, weil es ihnen an Zeit gebrach, sie zu zerpflücken.

Mirzoza, ihrer Reden ungeduldig, sagte: »Meine Herren, man muß Ihnen Verdienste und besonders Rechtschaffenheit zugestehn. Man darf also nicht zweifeln, daß Sie ganz so glücklich in der Liebe gewesen sind, als Sie sich rühmen. Doch muß ich Ihnen bekennen, ich möchte die Kleinode dieser Damen gern darüber vernehmen und würde Brahma von ganzem Herzen danken, wenn es ihm gefiele, durch ihren Mund der Wahrheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Das heißt,« sagte Maikäfer, »Ihro Gnaden wünschen eine und dieselbe Sache zweimal zu hören. Wir können sie ja nochmals erzählen, wenn Sie befehlen.«
Unterdessen drehte Mangogul seinen Ring nach der Rangordnung des Alters. Er fing bei der Seneschallin an. Ihr Kleinod hustete dreimal und sprach dann mit gebrochener zitternder Stimme: »Dem Groß-Seneschall verdank' ich die Erstlinge meiner Freuden. Doch gehört' ich ihm kaum seit sechs Monaten, als ein junger Brahmine meiner Gebieterin begreiflich machte, sie begehe keine Untreue gegen ihren Gemahl, wenn sie an einen Mann Gottes denke. Seine Moral gefiel mir. In der Folge glaubt' ich mit gutem Gewissen einen Senator zulassen zu können, hernach einen Staatsrat, einen Hohenpriester, ein paar Geheimschreiber, einen Geiger ...« »Und Murmelbach?« ergänzte Flachkopf. »Murmelbach kenn' ich nicht,« antwortete das Kleinod. »Vielleicht ist es der junge Geck, den meine Gebieterin aus dem Hause werfen ließ wegen einiger Frechheiten, deren ich mich nicht mehr genau erinnere.«

Cynarens Kleinod nahm das Wort: »Nach Trübewasser, Greifgreif, Flachkopf fragen Sie mich? Ich habe wohl viel Bekanntschaften gemacht, aber diese Namen hör' ich zum erstenmal. Vielleicht werden der Emir Amalek, der Finanzrat Tenelor oder der Wessir Abdiram mir Nachricht von ihnen geben können. Das sind meine Freunde. Die kennen die ganze Welt!«

»Cynarens Kleinod ist sehr verschwiegen,« sagte Maikäfer. »Es schweigt von Zarafis, Ahiram, dem alten Trebister und dem jungen Mahmud, den man doch nicht so leicht vergißt. Es klagt nicht den kleinsten Brahminen an, ohnerachtet es sich seit zehn oder zwölf Jahren in den Klöstern umhertreibt.«

»Ich habe doch gewiß schon manchen Besuch in meinem Leben empfangen,« sagte Melissens Kleinod, »aber Greifgreif und Breitschnabel, und noch weniger Maikäfer sind jemals zu mir gekommen.«

»Herzens-Kleinodchen,« antwortete Greifgreif, »du irrst. Breitschnabel und mich magst du verleugnen, soviel dir beliebt, aber mit Maikäfer stehst du ein bißchen besser, als du zugeben willst. Er hat mir etwas davon anvertraut, ist der wahrhaftigste Junge in Congo, gilt mehr als einer, den du genannt hast, und kann einem Kleinod nur Ehre machen.«

»Ja, die Ehre eines Betrügers gehört ihm und seinem Freunde Flachkopf,« sprach Fatimens Kleinod schluchzend. »Was hab' ich den abscheulichen Menschen getan, daß sie mir Übles nachreden? Der Sohn des Kaisers von Abessinien kam an Erguebzeds Hof. Ich gefiel ihm. Er bewarb sich um mich, aber es wäre ihm mißlungen, und ich wäre meinem Gemahl treu geblieben, der mir teuer war, hätten der verräterische Sammtpfötchen und sein niederträchtiger Mitschuldiger Flachkopf meine Zofen nicht bestochen und den jungen Prinzen mir im Bade zugeführt.«

Zirfilens und Zuleicas Kleinod hatten sich gegen den nämlichen Vorwurf zu verteidigen und sprachen beide zu gleicher Zeit, aber so hastig, daß es außerordentlich schwer war, jedem das Seine zu geben. »Gunstbezeigungen,« rief das eine. – »An Sammtpfötchen?« das andre ... »Ja! wär' es Zinzim ... Zerbelon ... Benengel ... Agarias ... der welsche Sklave Franz Rikeli ... der junge Ethiope ... Thezaka ... aber der schmacklose Sammtpfötchen ... der unverschämte Flachkopf! ... ich schwöre beim Brahma ... ich rufe die große Pagode und den Genius Cucufa zu Zeugen ... ich kenne diese Menschen nicht – ich habe nie mit ihnen zu tun gehabt!«

Zirfile und Zuleica sprächen noch, hätte Mangogul seinen Ring nicht zurückgedreht. Aber da diese Zauberkraft nicht mehr auf sie wirkte, verstummten ihre Kleinode plötzlich, und eine tiefe Stille folgte dem Geräusch. Dann erhob sich der Sultan und warf den unbesonnenen Buben zornige Blicke zu: »Ihr seid sehr dreist,« sprach er, »Damen zu verleumden, die Euch nie der Ehre würdigten, ihnen nahekommen zu dürfen, und kaum Eure Namen kennen. Wer macht Euch so frech, in meiner Gegenwart zu lügen? Zittert, Nichtswürdige!« Mit diesen Worten legte er Hand an sein Schwert, aber die erschrocknen Frauenzimmer schrien laut auf, und er hielt ein. »Ich wollt' Euch,« fuhr Mangogul fort, »dem Tode übergeben, den Ihr verdient, aber die Damen habt Ihr beleidigt, sie mögen Euer Schicksal entscheiden. Kriechendes Gewürm! von ihnen hängt es ab, Euch zu zertreten oder Euch das Leben zu schenken. Reden Sie, meine Damen, was befehlen Sie?«

»Sie mögen leben,« sprach Mirzoza, »und schweigen, wenn sie können.«

»So lebt denn,« sagte der Sultan, »diese Damen erlauben's. Vergeßt Ihr aber jemals die Bedingung, unter der Ihr lebt, so schwör' ich bei der Seele meines Vaters ...«

Mangogul vollendete seinen Schwur nicht. Einer seiner Kammerherren unterbrach ihn mit der Nachricht, daß die Schauspieler bereit wären. Der Fürst hatte es sich zum Gesetz gemacht, die Zuschauer niemals warten zu lassen. »Man kann anfangen,« sagt' er und gab seine Hand der Favorite, die er bis an ihre Loge begleitete.




„ritterlichen Taten gegen die Weiber“ hübsch. Je größer das Maul, desto kleiner die Heldentaten. Ab wann wurde die Tratschsucht weiblich konnotiert?

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