Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

The TV-Immigrant
Als Kind saß ich jeden Samstagnachmittag gebannt vor dem Radio. Einen Fernseher hatten wir damals noch nicht. Meine Brüder gingen an diesen Nachmittagen ins Kino, um die neuesten Fuzzyfilme zu sehen. Fuzzy mit dem doofen Hut war der Westernheld der 50er Jahre. Sein dollster Trick beim Besiegen von allerlei Bösewichtern war, völlig unsichtbar hinter einem Haus, Pferd, … zu stehen, seinen Colt am Lauf zu fassen und dann die ahnungslosen Schurken mit den schwarzen Hütten auf den Kopf zu hauen. So wurden sie niedergestreckt und die Guten konnten siegen. Ich war für derlei Gewaltexzesse nach Ansicht meiner Eltern zu klein und durfte trotz Protest und Gemaule meinerseits nicht mit ins Kino. Als Ersatz wurde das Radio eingeschaltet, das an den Samstagnachmittagen das Kinderprogramm ausstrahlte. Das Kinderprogramm ging über drei Stunden. Der größte Block darin, meist eine Stunde lang, war ein Hörspiel. Sehr selten war die Geschichte für eine Stunde zu lang. Dann wurde sie auf mehrere Sendungen verteilt, wobei jeweils zu Beginn der Abschnitt: Was bisher geschah? Gesendet wurde. So konnte man wieder leicht in die Handlung hineinkommen und auch wenn man eine Folge verpasst hatte, ließ es sich dadurch mit Genuss hören. Wahrscheinlich würden Hörspiele von einer Stunde Länge oder gar Fortsetzungshörspiele heute von keinem Redakteur mehr gebilligt. Wenn Erwachsenen schon keine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als 2 Minuten zugebilligt wird, würden Kindern heutzutage wohl noch weniger zugetraut.

Ich jedenfalls konnte die vollen drei Stunden gebannt lauschen, gelegentlich aus der Handlung hinausträumen und selbst als Held den Geschichten eine andere Wendung geben. Wenn ich mir alles ausreichend vorgestellt hatte, fädelte ich mich wieder in die Handlung des Hörspiels ein und lauschte einfach weiter. So ging das oft zwei bis drei Mal während der Stunde. Den Faden aufnehmen, weiterspinnen, zurückkehren in die Vorgabe und bei interessierender Gelegenheit wieder seine eigene Geschichte aus dem Gehörten machen.

Ich liebte diese Hörspiele.

Einige Jahre später stand dann auch bei uns ein Fernseher und allem Neuen, allem Fortgeschrittenen neugierig zugetan, glotzten wir TV, dass es eine wahre Freude war. Später kam dann noch bunt hinzu. Ich habe allerdings Jahre gebraucht, um die Flimmerkiste wenigstens in Ansätzen so zu gebrauchen wie das Radio. Nur bei besonders langweiligen Sendungen, wenn ich mit einer mittelschweren Erkältung im Bett liege gelingt mir das. Die Kombination von Bild und Ton nimmt anscheinend so viel Aufmerksamkeit in Anspruch, dass man sich nicht hinaus treiben lassen kann.

So richtig warm bin ich mit der Glotze nie geworden.

In der Regel benutze ich sie, wenn ich einen bestimmten Film sehen möchte, also wie ein Kinobesucher oder zur Aufnahme von Informationen, die dann allerdings sehr viel seltener ihren Eingang in das Langzeitgedächtnis finden als bei einem Buch. Zum Dritten ist die Glotze unübertroffen, um nach des Tages Mühsal abzuschalten (Kauende Elefanten). Da kann dieses Internet, von dem man in letzter Zeit so viel hört, einfach nicht mithalten.

Ideal hingegen sind Blogs und manche Online-Zeitschriften zum prokrastinieren oder grosse Textmengen nach Stichworten zu durchsuchen. Nichts schöner als durch die Weltgeschichte zu surfen, mal hier mal da zu lesen, einen Gedanken aufzuschnappen, dazu etwas notieren oder eine Information aufzunehmen und irgendwo abzulegen und nie wieder zu finden. Verblüffenderweise ist es relativ aufwändig, nervtötend und zeitraubend umfangreichere Sachinformationen aufzuspüren. Ich habe beispielsweise versucht einen Überblick über afrikanische Literatur zu gewinnen (Wenn man keine Ahnung hat, kann man sich ja mal damit beschäftigen. Dachte ich.). Entsprechende Suchanfragen im Netz führten zu einer Fülle von Meinungen zu Einzelaspekten, nicht jedoch zur gewünschten Zusammenstellung. O.k. vielleicht hat das Thema einfach noch niemand bearbeitet und zur Verfügung gestellt? Aber auch einigermaßen seriöse Überblicksdarstellungen zur Aufklärung oder zu liberalen Denktraditionen sind Mangelware. Die Dinge die man zu den Themen findet, sind dann wissenschaftliche Aufsätze von 20 bis 30 oder mehr Seiten Länge. Können Sie einen längeren Aufsatz am Bildschirm lesen? Ich nicht. Ich drucke das Teil dann aus und nehme mir einen Bleistift. Ich bearbeite es also auf sehr traditionelle Weise. Ich bekenne: Ich bin ein Internetausdrucker. Zumindest was längere Texte anbelangt. Aber wie soll man sich zu einem Gegenstand kundig machen, ohne längere Texte zur Kenntnis zu nehmen? Das geht nicht, denke ich. Ich glaube nicht, dass es nur mir so geht, dass ich die Struktur, den logischen Aufbau, einschließlich eventueller Schwächen daselbst, eines längeren Textes am Bildschirm nur unvollständig erfassen und bewerten kann. Zumindest ist es sehr mühsam, zeitaufwändig und fehleranfällig. Und nein, Gogglebooks ist keine Alternative zu einer einigermaßen gepflegten Fachbibliothek.
Wer Medien nicht in der Weise nützt, die ihnen adäquat sind, die Stärken und Schwächen nicht reflektiert, ist ein Spacko, Schwachmat, ein Laberkopf.

Warum ich das erzähle?
Weil ich mich gelegentlich wundere mit welcher depperten Arroganz ausgerechnet die Leute, deren Fähigkeit Texte von mehr als zehn Zeilen zu erfassen, höchst beschränkt ist, sich durch die Gegend faseln. Und weil ich mich frage, ob es am Medium oder an dem Herumhektiken (Ist ja alles so schön bunt hier!) mancher Leute liegt, dass sie längere Texte nicht lesen oder nicht verstehen wollen.

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jean stubenzweig, Dienstag, 1. November 2011, 10:45
Bereits Mitte
der neunziger Jahre habe ich mich über Studenten, über Studierende, wie das heute ja heißt, in geisteswissenschaftlichen Fächern gewundert, die Schwierigkeiten mit Texten von einer DIN-A-4-Länge hatten, die über das Allgemeinsprachliche hinausgingen. Da zeigten die ersten Störungen bereits Auswirkungen. Kürzlich las ich irgendwo den Satz, der in etwa gelautet haben dürfte: Wir informieren uns zu Tode. Das Problem scheint die mangelhafte Konzentration zu sein, hervorgerufen durch die aufkommende, vielgepriesene und sicher wohl als Mode auch beworbene Multitasking-Fähigkeit. Ich habe selbst zwar einige Menschen kennengelernt, die das beherrschen, aber es dürfte sich dabei um einen verschwindend geringen Anteil der Menschheit handeln.

Zwar habe ich anfänglich den Computer vehement abgelehnt, habe dann allerdings, ich hätte ich es selbst nie geglaubt, tatsächlich jahrelang Aufsätze am Bildschirm redigiert. Die beiden letzten Korrekturen wurden dann jedoch immer auf dem Papier vorgenommen. Und es blieben immer noch reichlich Fehler übrig. Es ist wohl so, daß das Papierauge aufmerksamer ist. Bei Büchern stimme ich ohnehin uneingeschränkt Gianni Celati zu, nur auf diese Weise kann ich in mir selbst entschwinden, weshalb ich meine Lese-Rubrik auch Kopfkino genannt habe:
«Denn wenn man Erzählungen schreibt oder liest, sieht man Landschaften, sieht man Gestalten, hört man Stimmen: Man hat ein naturgegebenes Kino im Kopf und braucht sich keine Hollywoodfilme mehr anzusehen.»
Gianni Celati, Cinema naturale, Wagenbach 2001

Ein Elektrobuch werde ich mir nicht anschaffen. Ich brauche auch das haptische Erlebnis, dazu den Stehpult oder den Ohrensessel (im Bett geht das Lesen mit mir überhaupt nicht). Ich kann mir nicht vorstellen, mein gerade wieder stattfindendes Kopfkino Au Bonheur des Dames von Émile Zola an einem Bildschirm zu lesen. Dagegen lehnt meine Phantasie sich auf. Aber es ist wohl eine Frage der Generation. Das E-Buch dürfte sich durchsetzen. Aber Zola paßt da ohnehin nicht rein. Eher so etwas wie Beim nächsten Mann wird alles anders. Oder Medienelite.

g., Donnerstag, 3. November 2011, 05:50
Ich denke dabei an verschiedenen Dingen herum, die mir im einzelnen noch nicht so klar sind. Ich versuche mal die verschiedenen Aspekte so nach und nach in Worte zu fassen und zu posten. Mal sehen wie konsistent das ausfällt. Zur Zeit beschäftigt mich am Meisten, dass das Lesen am Bildschirm die Erfassung der Textstruktur sowohl bei Aufsätzen wie bei Erzählungen und Romanen verhindert, zumindest aber ein Elefantengedächtnis erfordert. Dabei kann ich noch nicht den Anteil an persönlichem Unvermögen und den Anteil der dem Medium zuzuschreiben wäre so recht trennen. Mal sehen.

vert, Samstag, 5. November 2011, 19:53
e-ink-devices sind allerdings schön unaufgeregte geräte für gebrauchstexte. mittlerweile kann man auch in den texten herummarkern und-kritzeln. gefällt mir eigentlich ganz gut -ist mir aber noch zu teuer.

g., Sonntag, 6. November 2011, 07:04
Diese Reader wollte ich mir mal nächste oder übernächste Woche anschauen. Mal sehen.

vert, Montag, 7. November 2011, 00:41
es gibt da von zony dieses wifigerät mit wlan. leider kein schnapp. aber schauen sie mal.

g., Montag, 7. November 2011, 05:33
Danke, da ich mich bislang mit diesem Krams nicht beschäftigt habe, ist das vielleicht hilfreich.