Der hinkende Bote

Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten

Fundstücke 35. bis 42.KW
kluges und interessantes:
  • Zur Abwechslung mal eine Einschätzung ohne Beißzwang zum Thema Antisemitismus in der Linkspartei
  • Ali und Heather: alles eine Frage der Perspektive
  • Richard David Precht über Sloterdijk
  • „Wer dem kollektiven Verlust der Tugend auf S-Bahn-Höfen und in Bankkathedralen etwas entgegensetzen will, muss sich nicht zwischen Freiheit und Gleichheit entscheiden.“ Ja, aber ...
  • Der unbequeme Richter


  • Hintergründe und Sichtweisen:
  • 80 Jahre Bankenkrise 1931: Großbanken gerettet, Demokratie verloren
  • Kleine Geschichte der Staatsverschuldung
  • „Politically Incorrect“
  • Günter Franzen: Als die RAF entstand
  • Nimmt Gewalt gegen Polizisten wirklich zu?
  • Route der Migration und die zugehörige Dokumentation der Ausstellungskonzeption (2,6 Mb)
  • 17. September 1911: Teuerungsrevolte in Ottakring
  • Der Jurist Till Kreutzer fordert grundlegende Änderungen im Immaterialgüterrecht
  • dhonau über Individuen, die Gesichter der Renaissance und die Grünen als letzte Bürger
  • Warum wir an höhere Mächte glauben (Na ja)


  • Neue Wörter:
    gauche caviar wurde François Mitterand und sein korrupter Intrigantenstadel genannt.

    amüsantes:
  • Tödliche Tapeten
  • Lasst uns nach Unabhängigkeit streben 1
  • Lasst uns nach Unabhängigkeit streben 2
  • es ist aber alles nicht so einfach


  • Literatur und umliegende Dörfer:
  • Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts (Leserunde im Klassikerforum)
  • f.c. delius: Rede zur Eröffnung der Marbacher Ausstellung “Protest!Literatur um 1968″ im Literaturhaus Berlin
  • Willy Brandts Verhältnis zu Kunst und Künstlern
  • Der Jerusalemer Kreis versammelt die ¬letzten deutschsprachigen Autoren aus der Generation Paul ¬Celans
  • Ein Stück über religiöse Hingabe am HAU-Theater in Berlin
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    monnemer, Freitag, 21. Oktober 2011, 11:00
    'Tödliche Tapeten' ist ja herrlich! Danke für den Link.
    Wobei die Wissenschaft in puncto Treppensturz meiner Meinung nach einen Aspekt nicht berücksichtigt hat: Katzen.
    Die sind zumindest hier immer beteiligt, wenn ich in meinem Haus die Treppe runterfliege.

    vert, Samstag, 22. Oktober 2011, 15:27
    ich finde ihn auch sensationell- da sage noch jemand, die historiker*innenzunft sei nicht unterhaltsam... (zum glück gibt's hier gar keine treppen!)

    auch das bgh-thema werde ich mal ein bisschen unter beobachtung halten. ich kann mir genau vortellen, wie der bei der sammelbandrezension von "Mein schönstes Juraerlebnis" durch die Decke gegangen ist.

    und der precht bleibt mir sympathisch. Ich haette mir nur einen winzexkurs ystemtheorie gewünscht.

    jean stubenzweig, Freitag, 21. Oktober 2011, 11:57
    Dank für den Graf
    des Schlusses oder den Schlüsselverwalter des Schlosses, für die Precht-Kritik an den sphärischen Schaumkronen dieses Deichläufers. Besonders interessant ist das zum einen, da wir den ollen Europa-Süßstoff von ihm gerade aus dem Archiv zum wiederlesen bei mir eingestellt haben (weiterblättern wird schlichtweg überlesen, vielleicht, weil zu «holzig»), und zum anderen, da Precht, den wir mal kurz angerissen hatten, sich zusehends (ohne Neurose) zu profilieren scheint. Er ist mir in letzter Zeit einige Male öffentlich-rechtlich positiv aufgefallen, dieser praktische Philosoph, der mich zunehmend an den jüngeren Julian Nida-Rümelin erinnert. Prechts sphärologische Sprache – «eine Sandburg, deren Fundamente in der Sonne bröckeln, während ihr detailverliebter Baumeister gerade ein paar neue Zier-Zinnen formt» – ist griffiger, näher dran am Menschsein. «Man kann Zuschnitt und Wert einer Theorie daran messen, wie viele vorgeblich trübe Funzeln sie ausmachen muss, um selbst zu leuchten.» Am nach meiner Meinung zutreffendsten wird er an dem Ort, den der philosophische Graf des Afsluitdijk zu seiner hermetischen Bestimmung ausgerufen hat und den er geradezu zwanghaft vor Verwässerungen durchs weite Meer zu schützen versucht: «Ebenso wie Nietzsche schreibt er sich stolz als letztes Glied in eine philosophische Tradition ein, die gleichzeitig der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll – das Paradox nahezu aller Revolutionäre, die eitel in den Karossen einer Klasse sitzen, deren Überwindung sie feiern. Der Reiz der ‹Sphären› ist damit weitgehend der gleiche wie vor zwanzig Jahren jener der ‹Kritik der zynischen Vernunft›, die Sloterdijk bekannt machte.» Die Kraft oder auch Macht der Natur hat sich noch immer durchgesetzt, sogar gegen die Civilisation, für die nach der allgemeingültigen Lehre der Gottesanbeter er schließlich selbst verantwortlich zeichnet. Oder aber vielleicht ist das, von den Jüngern nicht wahrgenommen, weil (frühe) Aufklärung ihnen Teufelszeug bedeutet, die Erkenntnis schlechthin: «Doch seit den eloquent-selbstmitleidigen Jeremiaden beim Eklat um seine ‹Regeln für den Menschenpark›, als Sloterdijk in den Ruch faschistoiden Gedankenguts geriet, weiß auch ein Jürgen Habermas: Der tut nichts, der will nur spielen! [...] Peter Sloterdijk ist ein großer Kritiker, aber ein lausiger Architekt.»

    jean stubenzweig, Freitag, 21. Oktober 2011, 12:41
    Dann wiederum:
    «Das ist, wenn überhaupt, Wahlkampf der FDP. Die Frage ‹Freiheit oder Gleichheit?› ist so überholt wie der Religionskrieg der Katholiken gegen die Protestanten. Es sind Kämpfe aus der Zeit von Rousseau, Marx und Lenin.» So Precht im Spiegel. Und dann weiter: «Schon John Stuart Mill ahnte im 19. Jahrhundert, dass die Frage der Freiheit eine Frage der Bezugsgröße ist. Schon John Stuart Mill ahnte im 19. Jahrhundert, dass die Frage der Freiheit eine Frage der Bezugsgröße ist.» Ich weiß nicht so recht: Das eine aus dem 19. Jahrhundert ist überholt, während das andere Gültigkeit hat. Schwache, zumindest schludrige Leistung, die in ihrer Widersprüchlichkeit vermieden werden könnte. Auf Neudeutsch: Populismus. Oder auch: Spiegel-Pop, wie zu Zeiten, als alles aus einem Guß zu sein hatte. Ärgerlich.

    g., Samstag, 22. Oktober 2011, 07:30
    Der Text im Spiegel ist ungewöhnlich – wie soll man sagen? – wirr, widersprüchlich, ... mindestens ärgerlich.
    Was ich an Precht eigentlich schätze, ist seine Fähigkeit Grundfrage bzw. Konflikte der (deutschen) Gesellschaft populär darzustellen. (Sie merken schon, ich habe nicht so sehr viel gegen Populismus einzuwenden.)
    Ich bin der Auffassung, dass in diesem Land eine kritische Öffentlichkeit nur noch als Randphänomen (von alten Männern, seltener von Frauen) zur Wahrnehmung gebracht wird. Dies hat u. a. mit den Veränderungen (Zurichtungen) in den Medien zu tun. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Precht Konflikte wie zwischen Honeth und Sloterdijk, deshalb für nichtexistent („Die tatsächlichen Freund-Feind-Linien verlaufen längst nicht mehr zwischen einem sloterdijkschen stolzen Ethos der Leistungsträger und einem verklemmten Semi-Sozialismus aus der Sozialarbeiterepoche der Frankfurter Schule.“) erklärt, weil sie in dieser Form nicht mehr diskutierbar sind. Ärgerlich und fahrlässig und nachgerade gefährlich wird es aber dann im Folgenden. Nicht mehr diskutierbar sind diese Konflikte ja nicht, weil sie tatsächlich überholt oder weil es sie nicht geben würde (da liegt der Gedanke, dass es sie nie gegeben hat ja nahe), sondern weil sie im allgemeinen Sabbel vom Ende der Geschichte nach dem Mauerfall, dem „links gleich rechts“, Europa als aufzubauender Machtblock neben den USA viel gut, für undiskutierbar erklärt und durch stetige Wiederholung in Form von unhinterfragbaren Wahrsätzen bekräftigt, aus dem Fokus katapultiert wurden. (Dass dies sich mit der Finanzkrise wieder ändert kann füglich gehofft werden.) Worauf will ich hinaus? Mein Eindruck ist, dass Precht häufig taktisch schreibt und redet. Er hat die Undiskutierbarkeit akzeptiert und versucht vor diesem Hintergrund eine neue, öffentliche Debattenkultur zu reanimieren. Daher auch sein Auftritt bei der FDP. Ich halte dies für einen Fehler (das Akzeptieren des Diskussions’verbotes’, nicht seinen Auftritt bei der FDP an sich). Man kann sich nicht jenseits gesellschaftlicher Konflikte positionieren. Aber vielleicht denke ich da zu verschwörerisch und es geht ihm einfach nur um, wie sagt man heutzutage ‚awarenes’?, um Marktmacht, Verkaufszahlen.

    Verlinkt habe ich den Spiegelartikel übrigens nicht nur aus Gründen der Ausgewogenheit nach dem Motto: uneingeschränktes Lob gibt’s nur für Leute, die es auch verdienen, sondern auch weil mir der Satz: „Eine Gesellschaft 2.0 könnte am Ende gar keine mehr sein.“ viel zu denken gegeben hat. (Seine Überbetonung des Strukturwandels der Öffentlichkeit gegen – nennen wir es mal Klassenkampf oder weniger martialisch Verteilungskonflikte – ist aber nicht nur ärgerlich, sondern dummes, um nicht zu sagen: reaktionäres Gequatsche und hat mit ‚nostalgischen Problemen’ nichts zu tun.)